Nervös biss ich mir auf die Lippe, weil ich keine Antwort darauf fand, weil er recht hatte. Jahrelang hatte ich damit kämpfen müssen, mich bei meinen Eltern wohlzufühlen, suchte die Schuld bei mir, obwohl ich eigentlich nur Anerkennung wollte, die man mir nie wirklich gab. Ich hatte Angst, dass man sie mir nie gab und dementsprechend hielt ich mich viel zu lang damit auf, meine Psyche deswegen unabsichtlich zu zerstören. Es war dumm von mir und diese Worte, auch wenn sie vielleicht verletzend waren, zeigten nur einmal mehr, dass mein Zuhause nie wirklich mein richtiges Zuhause war und dass dieses Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir nie so sein wird, wie ich es mir wünschen würde. Selbst wenn mein Vater es irgendwann akzeptieren würde, saßen die Narben tief und mit jedem noch so kleinen, aber noch so falschen Wort konnten sie wieder aufgerissen werden und die Vergangenheit wieder auf ein Neues mich zerstören lassen.
„Ich weiß es nicht... Weil ich immer gedacht habe, dass meine Eltern meine Eltern sind, mir ein Zuhause geben und mich lieben, wie ich bin? Aber am Ende haben sie mich eher zerstört, weil sie nie zwischen den Zeilen versucht haben zu lesen? Ich weiß es einfach nicht... Vielleicht ist es naiv zu denken, dass ich mir noch immer erhoffe, dass sie ihr veraltetes Rollenbild endlich loslassen... Aber es wird immer da sein, nicht? Irgendwann werde ich wieder Felix sein, obwohl ich Lix sein möchte, hab ich recht?"
Es tat gut meine Gedanken loszuwerden, die mich die letzten zwei Tage beschäftigt hatten. Keineswegs wollte ich ihnen etwas unterstellen, aber zumindest mein Vater würde sich niemals damit zu hundert Prozent anfreunden können mich so zu akzeptieren, wie ich war. Da brachten auch die Worte meine Mutter nichts, die ihn zu besänftigen versuchten, weil sie letztlich nur abprallten.
„Das Bild ist schon alt... Um die zwei Jahre, nicht?", versuchte ich das Thema einfach auf ein anderes zu richten. Ich wollte kein Trübsal blasen, jetzt, wo ich bei Chan war. „Ich glaub, dass war in der Zeit, als ich realisiert habe, dass ich non binary bin..."
„Ja, das war das letzte Mal, als mir Rachel Nachhilfe gegeben hat und eigentlich dachte ich, dass unser Kontakt wieder weniger werden würde. Stattdessen wurde er mehr... Vielleicht weil wir beide von deinem kleinen Geheimnis wussten, aber niemand wollte es aussprechen, dass da wirklich etwas ist. Vielleicht war es für uns beide ein indirektes Zeichen; du wolltest, dass ich dir helfe und ich wollte dir durch die schwere Zeit helfen." Meine Stirn legte sich in Falten, weil ich nicht so recht wusste, was er meinte. Ich war wirklich verwirrt, aber irgendwie schien ich innerlich eine kleine Vorahnung zu haben.„Ich habe dir damals immer die Arme abgebunden und wahrscheinlich hast du mir versucht immer so kleine Botschaften auf den Weg zu geben... Aber allem Anschein nach, hab ich damals nie verstanden, was du mir damit sagen wolltest. Ich war zu blind, um sie zu verstehen und ich mach mir bis heute deswegen auch Vorwürfe... Bestimmt wäre vieles anders gekommen. Ich hätte dir dein Lächeln schon viel früher zurückgeben können, hätte ich meine Augen ein bisschen mehr aufgemacht." Ein leises Schniefen drang in mein Ohr, weswegen ich meinen Blick erneut zu ihm richtete. Tränen rannen seine Wangen herunter, machten seine Haut nass und irgendwie tat es mir vollkommen leid, dass er wegen mir zu leiden hatte.
„Ich wollte immer verstehen, warum du dir das antust und deswegen hab ich dir auch sofort geholfen, weil ich nicht mit ansehen konnte, wie du keinen anderen Ausweg gesehen hast mit dir zurecht zu kommen." Chan holte tief Luft, damit seine Stimme stabil blieb und nicht einem vollkommenen Zittern glich. Und irgendwie wusste ich auch nicht, wie wir auf einmal wieder ein solches Thema aufgriffen. Aber es war auch wichtig, dass der Ältere über seine Probleme sprach und nicht immer nur mir zuhörte. Seine waren mindestens genauso wichtig. „Irgendwie hatte ich immer Angst, dass ich dir nicht ausreichend helfen kann und es nicht mitbekomme, wenn du meine Hilfe brauchst. Es ist immer schrecklich, wenn man Menschen sieht, denen man anmerkt, wie sie leiden und noch viel schlimmer ist es, wenn man nicht weiß, wie man ihnen helfen kann, weil man nicht ihr genaues Problem kennt. Und ich kann wahrscheinlich nicht oft genug sagen, wie stolz ich auf dich bin und immer sein werde. Du überraschst mich mit allem was du tust..."
Sofort nahm ich ihn in den Arm, als ich spürte, wie er keine Worte mehr hervorbringen konnte. Aber irgendwie brauchte er das auch nicht. Ich war dankbar, dass er sich überhaupt damals die Mühe gemacht hat mich nicht einfach auf den Flur stehen zu lassen, sondern ohne zu zögern mich auf die Toilette zog. Viele andere hätten weggesehen und so getan, als wäre es nicht existent. Nur Dank ihm hatte ich schaffen können mich endlich von diesem Verhalten zu lösen. Ich hatte Kraft bekommen zu kämpfen, auch wenn es noch so schwer war.
„Das alles habe ich nur wegen dir geschafft. Hättest du mir damals nicht geholfen, würde ich vielleicht nicht mehr leben. Du hast mich gerettet, auch wenn du mindestens genauso hilflos warst wie ich und nur deswegen stehen wir jetzt hier... Ich liebe dich und das nicht nur als besten Freund, Chan."
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𝗦𝗲𝗺𝗶𝗰𝗼𝗹𝗼𝗻 ✧ CHANLIX
FanfictionFelix ist immer der Junge gewesen, wie man es ihm vorgegeben hat. Ein Rollenbild, welches sich in seinem Kopf noch so falsch anfühlt, während er zu ängstlich ist zu sagen, wieso er am liebsten alles dafür tun will, dass ihn seine Mitmenschen nicht m...