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Die nächsten Tage wurde es eben auch nicht besser. Alles, was zu Hause passierte, projizierte ich auf mich selbst und gab mir die Schuld dafür, was passiert war. Ich redete nicht, mied Gespräche mit jedem. Auch mit Rachel und Chan. Letzterer hatte von Hyunjin eine ausführliche Zusammenfassung des Tages bekommen, den wir zusammenverbracht hatten. Und somit dachte er auch, dass es damit zu tun hatte, dass meine Klasse wieder vermehrt auf mich losgegangen sein könnte. Aber dem war nicht explizit so. Die Sticheleien waren da und hatten nie aufgehört, nur hörte ich wieder vermehrt auf sie, anstatt sie zu ignorieren. Den Sportunterricht mied ich, obwohl wir heute eine Sportvertretungsstunde mit Chans Klasse hatten und ich eigentlich sicher war. Aber lieber ließ ich mir die schlechte Note geben, als mich wieder verletzen zu lassen.

Ich hatte gerade einfach keine Kraft mehr für alles und somit hatte ich es auch sein lassen mich zu schminken. Es brachte mir am Ende auch nichts, weil ich mich sowieso daran zu gewöhnen hatte, dass ich es bald schon nicht mehr konnte, wenn Rachel auszog. Schließlich wurde ich mir nur einmal wieder bewusst, dass ich mit meinen Problemen allein war und man mich am Ende sowieso nur im Stich lassen würde. Bis heute war es mir ein Rätsel, dass ich siebzehn Jahre meines Lebens mit den ständigen Streitigkeiten in meiner Familie überlebt hatte. Und bis ich endlich ausziehen konnte, würden es auch noch einmal zwei Jahre sein und ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob ich das aushielt, geschweige denn überlebte.

„Jetzt bleib doch endlich stehen!" Chan hielt mich an meinem Handgelenk fest und brachte mich dazu, stehen zu bleiben. Ich war schon die ganze Zeit dabei gewesen ihm aus dem Weg zu gehen und bisher hatte er auch versucht Verständnis für mein Handeln zu zeigen, ließ mir meine Ruhe. Aber nun waren wir wohl an einem Punkt, da konnte er nicht mehr mich leiden sehen. „Lix, sag mir, was ist los? Wieso meidest du mich?"

„Nenn mich Felix.", brachte ich nur heraus und wandte meinen Blick von ihm ab. Mir war klar, dass er dem nicht nachkommen würde und weil ich ihm nicht in die Augen sehen konnte, würde er mir erst recht nicht glauben, dass ich es ernst meinte. Es war eine Kurzschlussreaktion der letzten Tage. Dasselbe hatte ich schon Rachel gesagt, genauso wie Hyunjin. Wobei letzterer dem nachkam, weil er nicht wusste, was abging und ich sowas nicht zum ersten Mal brachte. Immer, wenn ich mich zu sehr in eine Ecke gedrängt fühlte, sagte ich, dass sie mich mit meinem richtigen Namen zu nennen hatten, obwohl ich das ja eigentlich gar nicht wollte. Die Worte meiner Mutter ließen mich aber nicht los. Mein Name war Felix und mich ständig Lix zu nennen, schien wohl doch total falsch zu sein, um einem Pronomen auszuweichen.

„Das werde ich nicht. Sowas kannst du mir noch zig Mal sagen und ich würde es trotzdem nicht tun.", gab er mir seinen Standpunkt klar zu verstehen. Ein Teil von mir freute sich total, ein anderer wollte nichts mehr, als dass er meiner Bitte nachkam. Nur konnte ich nicht unterscheiden, welche die Vernünftigere von den Beiden war.

„Rachel zieht aus.", brachte ich dann endlich doch über meine Lippen, als ich mit mir gehadert hatte. Und damit schien er auch zu verstehen, wieso ich mich zurückzog und mich anders verhielt als ich es sonst tat. Natürlich wollte ich mich damit schützen, aber ich verletzte damit auch andere. Vor allem wenn es der beste Freund war, dem du sonst alles anvertraust und davon wusste, dass es regelmäßig zu Streitereien in deiner Familie kam, die eigentlich noch so belanglos waren. Aber sie waren eben der Auslöser, dass man mich immer wieder zurückwarf, weil ich schon seit Jahren in meinem Kopf mit mir selbst Streit führte.

„Ich habe dann niemanden mehr, wenn Olivia wieder auf mich losgeht, der mich beschützt. Ich hab niemanden, der mich verteidigt, wenn meine Eltern meinen, dass ich zu schweigsam bin oder ich mich zu wenig wie ein Junge verhalte... Ich bin allein, Chan..." Natürlich nahm er mich direkt in seine Arme und streichelte behutsam meinen Kopf. Auch wenn es kein direkter Körperkontakt war, weil seine Hand die Kapuze, welche ich übergestülpt hatte, von meinen Haaren trennte, streichelte, beruhigte es mich zu einem geringsten Bruchteil.

„Auch wenn sie bald nicht mehr bei dir wohnt, kannst du immer zu ihr gehen. Für dich sieht es so aus, als würde sie vor dir und den ganzen Streits flüchten. Aber so wie ich sie in Erinnerungen habe, macht sie das für dich. Du warst immer die Person, die auf dich am meisten Rücksicht genommen hatte... Vor allem als ich dich kennengelernt habe, hab ich ihre Augen in meinem Nacken gespürt. Und eigentlich will sie nur einen weiteren Ort schaffen, an dem du dich komplett sicher fühlst."

Natürlich hatte sie mir dies genauso erklärt, aber irgendwie fühlte es sich nicht so an, als würde sie es für mich tun, sondern gegen mich. Als hätte sie genug von mir, meiner Art und meiner Sensibilität, die einer Achterbahnfahrt glichen. Ich war eine Zumutung. Doch nachdem mir Chan nun dies ein weiteres Mal mit seinen eigenen Worten versucht hatte zu vermitteln, grübelte ich langsam wirklich, ob es nicht doch für mich war, anstatt gegen mich.

„Aber was mache ich dann Zuhause, wenn sie nicht mehr da ist?"
„Das wird sich ergeben und deine Eltern können dir schließlich nicht verbieten deine Schwester zu sehen, nur weil sie ausgezogen ist."

𝗦𝗲𝗺𝗶𝗰𝗼𝗹𝗼𝗻 ✧ CHANLIXWo Geschichten leben. Entdecke jetzt