Kapitel 1

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Vorsichtig nippte ich an meinem Wasserglas. Ich hasste Partys.

Mein Blick glitt über die tanzende Menge hin zu meiner besten Freundin Eve.
Ihr war deutlich anzumerken, dass sie nicht mehr nüchtern war, denn sie küsste ihren Exfreund. Morgen würde sie mich wieder anzicken, wieso ich nichts gesagt hatte, aber besoffen war sie ein gemeines Biest.

Als ich ihr vor einem Jahr eine Wodkaflasche weggenommen habe, hat sie mir das Nasenbein zertrümmert.
Heute wollte ich nichts riskieren.

Eigentlich wäre ich sowieso lieber zuhause. Grahams Geburtstag interessierte mich nicht.
Wir hatten uns siebeneinhalb Jahre angeschwiegen und ich sah keine Grund das jetzt zu ändern.

Mein Blick fiel zu Tür und ich griff augenblicklich zur Tequilaflasche. Ohne Hochprozentiges wäre dieser Abend sonst nicht zu überstehen.

Ich versuchte meinen Blick abzuwenden, doch der Junge bahnte sich seinen Weg durch die Menge zu mir.
Die Menschen machten ihm freiwillig Platz, aber ihre Gesichter waren schockstarr.
Niemand hatte damit gerechnet, den ihn wiederzusehen.

Ich konnte ihr Tuscheln hören. Die Gerüchteküche brodelte. Hatten seine Eltern endlich das Lösegeld gezahlt? War er doch kein europäischer Prinz? Hatte er den Krebs besiegt?

Er widmete ihnen keinen Blick.

"Jule." Seine Stimme klang anders als in meiner Erinnerung. Reifer.
Er war anders als in meiner Erinnerung.

Ich schluckte und umgriff die Tequilaflasche fester. Vielleicht suchte ich nach Halt, vielleicht versuchte ich nur dem Jungen vor mir nichts anzutun.

"Ivan." Für einen kurzen Moment ertränkte ich meine Gedanken in seinen Augen. Ein türkisblauer Ozean voller Erinnerungen, voll endloser Sommer.
Ein Ozean voller Lügen.

Wir musterten uns schweigend. Ich meinte Reue in seinem Gesicht zu sehen, aber statt Genugtuung spürte ich nur eine tiefe Leere in mir.

Meine Finger zitterten, als ich nach dem Shotglas griff und ich hoffte, dass Ivan es nicht bemerkte. Der Alkohol konnte meine Gedanken vielleicht betäuben.

"Der Countdown", rief Eva mir plötzlich zu und dankbar verschwand ich in der Menge.
Ivan ließ ich hinter mir zurück.

"Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, ein."
Die Menge grölte.
Mein Blick fiel zu Graham und ich erstarrte. Die sonst so kalten Augen durchleuchteten mich förmlich und ich sah in seinem Gesicht blanke Verwirrung.

Leise räusperte ich mich, aber das Geräusch schien plötzlich den ganzen Saal einzunehmen.
Auch Grahams Freunde schienen mich plötzlich anzustarren und kurzerhand entschied ich mich, abzutauchen.

Ich winkte Eve zu mir und verschwand in der Küche.
"Hattest du auch das Gefühl, dass er mich anstarrt?", murmelte ich mit seltsam belegter Stimme.

Zitternd griff ich nach dem Tresen. Der Alkoholeinfluss war wohl nicht mehr zu leugnen.
Als Eve jedoch nickte, kam meine Welt noch weiter ins Schwanken.

"Seine Freunde schienen auch verwirrt zu sein", fügte sie hinzu und meine Finger krallen sich fester in das Holz.

"Ich will das nicht", flüsterte ich. "Erst Ivan und nun das."
Eves Augen weiteten sich.

"Er ist wieder da?"

Mir schoßen Tränen in die Augen, als ich nickte.
"Ach Jule", meinte sie plötzlich und schlangt ihre Arme um meinen Körper.

Mein Kopf fuhr hoch, als ich Stimmen vor der Tür hörte.
Graham.

Ich versuchte das Zittern zu unterdrücken und ihn nicht zu offensichtlich zu mustern.
Grahams Ego war ohnehin zu groß.

"Gefällt euch die Party?" Bildete ich es mir ein oder zitterte auch seine Stimme? Es lag ein seltsamer Unterton darin und ich lehnte mich unwillkürlich etwas weiter von ihm weg.

"Ja, total", grinste nun Eve, doch sein Blick ließ keinen Millimeter von mir ab.

"Kann ich dich kurz sprechen Jule?" Er schien Eves Antwort einfach zu übergehen.
Gedankenverloren starrte ich zu Boden.
"Jule?"

"Sorry", murmelte ich nur und winkte Eve zitternd heraus, nur um meinen Blick wieder Graham zuzuwenden.

Er war ein ganzes Stück näher gekommen und eine Deowolke hüllte mich ein.
"Du bist mir aufgefallen," begann er plötzlich und ich sah nachdenklich an mir heruter.

Die Jeans und das rote Satintop wirkten nicht wirklich party-tauglich oder attraktiv an mir, aber ich ließ den Jungen fortfahren.

"Deshalb wollte ich fragen, ob wir uns vielleicht mal treffen sollen?"
Er kratzte sich am Kopf.

Ich nickte und versuchte die aufkommende Panik zu unterdrücken. "Nächste Woche habe ich leider keine Zeit, ich muss für die kommenden Prüfungen lernen, aber wir können ja schreiben."

Ein gezwungenes Lächeln huschte über mein Gesicht, doch Graham schien es nicht aufzufallen.
Er wirkte erleichtert und auch ich merkte, dass mein Herz etwas ruhiger schlug.

"Na dann, bis bald", mumelte er und hauchte mir in einem plötzlichem Anflug von Tapferkeit einen Kuss auf die Wange
.
"Bis bald."
Meine Wange kribbelte sonderbar und eine plötzlich Hitzewelle schoß durch meinen Körper. Unwillkürlich fuhr ich über meine Wange.

Eve betrat den Raum wieder und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu.
"Er hat echt aufgeregt gewirkt, als er aus dem Zimmer gegangen ist. So habe ich ihn noch nie gesehen", lachte sie.
"Was hast du ihm angetan?"

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. "Ich glaube, für diese Geschichte brauche ich noch etwas mehr Tequila."

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