Kapitel 22

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Die aufgehende Sonne verwandelte die Moorlandschaft in Gold und kündigte gleichzeitig das Ende des Friedens an.
Der große Tag war gekommen.
Graham schien es, als könnte er das Blut, das die Erde bald tränken würde, schon riechen.
Seine Reißzähne kamen hervor.
In den letzten Tagen hatte er die Kontrolle über seinen Wolf weiter verloren und die menschliche Gestalt kostete ihn immer mehr Kraft.
Mit einem Stöhnen stürzte Graham zu Boden, doch noch bevor seine Hände den Boden berühren, hatten sie sich in Pranken gewandelt.
Er heulte.
Die Wolf passte besser zu dem Monster in seinem Inneren.
Sein Herz schlug kräftig, doch seine Seele war ausgelöscht worden.
Graham war ein Schatten seiner Selbst, das Rudel hatte ihn verlassen und er stand in diesem Kampf auf keiner Seite mehr.
Er genoss nur den Blutgeruch.

*

Von der anderen Seite des Schlachtfelds sah ein Europäer herüber.
Scharfe graue Augen beobachteten jede Regung des Wolfes.
Der junge Mann war in die schlichte Kleidung eines Söldners gehüllt, doch die Werwölfe um ihn respektieren ihn.
Es waren Ausgestoßenen aus den fernsten Bergdörfern und Wäldern.
Düstere Gestalten, die nicht an das Licht der aufgehenden Sonne gewöhnt zu seien schienen. Sie kniffen die Augen zusammen, doch ihre Nasen waren gebläht.
Seine Verbündeten waren immer auf der Hut.
Sie waren die grausamsten Mörder, die er hatte finden können.

"Bringt ihn her zu mir. Lebend. Ich will ihn lebend", knurrte der Mann und deutete auf den umherhuschenden Schatten, der noch nichts von seinem Unglück ahnte.
Die Werwölfe entblößten ihre Zähne und wandelten sich, ohne die Befehle ihres Anführers zu hinterfragen.
Sie erkannten seine Anspannung.
Sein Akzent trat deutlich hervor, wie immer wenn er sich aufregte.
Und gerade raste sein Puls.
Der Geruch machte ihn wahnsinnig.
Es roch nach Verrat.

*

Ich musterte Florence.
Hinter dem hübschen Gesicht verbarg sich mehr, als ich damals erwartet hatte.
Die Kämpferin, die gerade ihre Waffe putzte, erinnerte kaum mehr an die naive Französin, die mich damals erschrocken gemustert hatte.
Ja, der Krieg veränderte die Menschen.

Ich vermied es, in den Spiegel zu sehen, und konzentrierte mich auf meine Waffe.
Meine Hände zitterten nicht mehr, als ich an  die Übungsstunden mit Ivan dachte.
Es war vorbei. Vergangen.
Der Schmerz blieb hinter dem trüben Schleier der Akzeptanz verborgen.
Ich wischte kontentriert über den Schaft der Pistole.

"Nimm genug Munition und Proviant mit", meinte das Mädchen und ließ ein weiteres Magazin in ihre Tasche gleiten.

Ich nickte.
"Schon eingepackt."

Wir hatten vor uns in der Nähe des Schlachtfelds zu verstecken und Louis' Rudel Rückendeckung zu geben.
Leider hatte Louis keine Menschen im Kampf erlaubt, doch einem Versteck in einer alten Eiche hatte er zugestimmt.

"Bist du fertig?"
Florence hatte bereits die Tarnkleidung übergezogen. Der grüne Stoff betonte die Kälte in ihren Augen und ließ sie wie eine Soldatin wirken.
Ich konnte nicht sagen, ob ihr dieses Outfit oder ein Kleid besser stand.

"Warte kurz, ich ziehe mich um", antwortete ich und streifte mir einen grün-gemusterten Pulli über mein Top um mich vor der Kälte zu schützen.
In Kanada waren die Morgen frostig und die bunten Blätter läuteten bereits den Herbst ein.

*

"Schon aufgeregt?", fragte Florence, als mich auf den Ast zog.
Sie war nach oben geklettert wie eine Katze, doch ich hatte kämpfen müssen.
Die glatte Rinde des Baumes hatte kaum Halt geboten und Klettern hatte noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört.

Die großgewachsene Eiche stand in einer Moorlandschaft und wurde durch einige Bäume vor Blicken geschützt.
Der Boden bestand hauptsächlich aus Schlamm. Nur wenige Büsche kauerten in der Ebene und bohten Schutz vor dem unbarmherzigen Wind.
Die Pfützen hier hatten meine Hosen durchnässt und meine Laune war auf dem Tiefpunkt.

Erschöpft lehnte ich mich an den Stamm.
"Weiß nicht", keuchte ich als Antwort auf Florences Frage. "Vielleicht. Ich will nicht sterben."
Mein Herz pochte tatsächlich, doch das konnte auch an der Anstrengung liegen.

Ein Grinsen huschte über Florences Gesicht.
"Ich auch nicht, aber wir müssen uns keine Sorgen machen, glaub mir. Das wird schon. Wir sind gut vorbereitet und in der Überzahl."
Sie griff nach meiner Hand und drückte sie.

"Wir haben sogar Verstärkung bekommen, siehst du?"
Florence deutete auf eine weit entfernte Baumgruppe, in deren Schatten einige dunkel verhüllte Gestalten kauerten.
Einige schliefen in ihrer Wolfform, doch die meisten aßen oder unterhielten sich.
"Söldner, aber niemand ist sicher, wer sie bezahlt hat.
Niemand aus Louis' Rudel auf jeden Fall.
Ich hoffe nur, dass sie auf unserer Seite stehen."
Sorge stand in ihrem Blick.

Ein Mann in einem dunklen Mantel sah nach oben und mir lief ein Schauer über den Rücken.
Obwohl ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, brannte der Blick auf meiner Haut.
Schnell wandt ich mich ab.

"Woher stammen sie?", fragte ich Florence, doch die zuckte nur mit den Schultern.

"Osteuropa oder Russland schätze ich. Vielleicht auch Skandinavien oder Irland.
Dort kommen die meisten Söldner her.
Die Natur in diesen Ländern ist rau, doch doch die Wölfe sind rauer."
Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus und ich sah wieder in den Schatten der Baumgruppe, doch der Mann war verschwunden.

"Schlaf ein wenig, ich passe auf", meinte Florence und legte ihre Hand auf meine Schulter.
Wir wussten nicht, wann Louis und sein Rudel eintreffen würden und auch über den Verbleib unserer Feinde wussten wir nichts.
Oder waren es doch die dunkel verhüllte Kämpfer?

Ein erneuter Schauer lief mir über den Rücken.
Als ich aufsah, saß der Mann wieder im Schatten eines Baumes, den Blick in unsere Richtung gerichtet.
Sah er uns an?

"Hör auf sie anzustarren, bitte", lachte Florence und boxte mich gegen die Schulter.
"Das sind Werwölfe, die erkennen jede Regung deines Gesichts aus dieser Entfernung, glaub mir."
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Der Wolf musste gesehen haben, wie ich ihn gemustert hatte.

"Schlaf jetzt endlich. Du hast es dringend nötig, der Tag wird anstrengend."
Ich nickte und suchte mir eine bequeme Position auf dem Ast.
Obwohl mich einige Zweige stachen, fielen mir bald die Augen zu.
Trotzdem wusste ich, dass der Blick des Mannes mich in meine Träume verfolgen würde.

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