Kapitel 2

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Müde ließ ich meinen Blick über die Klasse wandern.
Der Kater heute war mit unerwarteter Heftigkeit gekommen und ich konnte die Gedanke förmlich gegen meinen Kopf hämmern spüren.
Ein leises Seufzen entfuhr mir, als ich mir über die Schläfen strich.

Eve war auch vollkommen dicht gewesen, aber heute schien es ihr deutlich besser zu gehen als mir.
Zwar war sie wegen Brandon noch sauer auf mich, aber dieses Mal sprach sie noch mit mir.

Wenigstens war Graham noch nicht aufgetaucht, aber die Stunde hatte noch nicht begonnen, also musste ich befürchten, dass meine Ruhe nur von kurzer Dauer war.

Ich behielt Recht.
Gerade als die Schulglocke läutete, strömte eine Gruppe lachender Junge herein.

Graham, seine Freunde und zu meinem Entsetzen auch Ivan. Er hielt sich im Hintergrund und gab sich scheinbar Mühe, mich nicht anzusehen.

Graham hingegen schien meinen Blick nur auf mich zu fokussieren. Der gelbliche Glanz in seinen Iriden bereitete mir Gänsehaut.
Ich hatte nie gewusst, dass es tatsächlich Menschen mit gelben Augen gab.
Waren das nicht immer nur Kontaktlinsen gewesen?

Ich schluckte und sah wieder auf mein Heft.
"Jule?", flüsterte Eve und legte eine Hand auf meinen Arm, doch ich sah sie nicht mal an.

"Ich pack das schon."
Meine Stimme klang brüchig und ich schmeckte den bitteren Nachgeschmack einer Lüge auf meiner Zunge.

Der Unterricht zog sich und ich fühlte mich nackt unter Grahams Blicken.
Er hatte mich noch nie so angesehen.

Als die Pause begann eilte ich schnellstmöglich nach draußen.
Normalerweise setzte ich mich in die Mensa zu Eve, aber heute brauchte ich frische Luft und Stille.

Mein Herzschlag verlangsamte sich spürbar, als ich mich auf der Bank niederließ.
Hier kam seit Ewigkeiten niemand kaum jemand hin und heute nieselte es.
Der Himmer war schmutzig grau und kalter Wind pfiff über den Hof.
Nur zwei Raucher hielten es im Regen aus.

Meine Gedanken floßen hier draußen langsamer, fast wie Honig.
Was wollte Graham von mir?

Siebeneinhalb Jahre hatte er mich nicht angesehen.
Als ich gerade zugezogen war, hatten er und seine Freunde Witze über mich gerissen.
Nur Ivan hatte mich damals verteidigt.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf.

Ohne ihn hätten sie nie aufgehört.
Umso bitterer wog sein Verrat.

"Jule?"
Die Stimme löste einen Wirbelsturm an Emotionen in mir aus, doch ich hielt meinen Blick gesenkt.

"Ich wollte mich entschuldigen. Für alles." Mein Kopf schoß hoch und ich starrte in Ivans Gesicht.

"Das macht es nicht wieder gut." Ich spuckte den Satz förmlich aus, doch im selben Augenblick wollte ich ihn wieder zurücknehmen.
Ivan war verletzt zurückgezuckt.

Sein Blick erinnerte mich wieder an den kleinen Jungen, mit dem ich damals meine Milchbrötchen geteilt hatte.
Vielleicht existierte er ja noch, irgendwo zwischen versteckt in dem ganzen Erwachsenenkram.

Wir waren alle älter geworden.

Ivan fuhr sich durch sein halblanges, blondes Haar.
Vor seinem Verschwinden hatte er es kurz geschoren, doch die längeren Wellen mochte ich mehr.
Sie gaben ihm etwas verwegenes und ließen den kleinen Jungen für einem Moment zurückkehren.

"Nein, das tut es nicht. Ich kann es nicht mehr gut machen", murmelte er, scheinbar mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet.

"Du bist einfach gegangen. Ivan", ich stockte kurz und sah ihm in die Augen, "ich dachte du wärst tot."

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