Kapitel 30

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Mein Mund wurde trocken.
"Was meinen Sie?"
Natürlich ging es mir nicht gut, aber ich hatte den Schlafmangel und all den Stress verantwortlich gemacht.

"Nun, Übelkeit, ständige Erschöpfung, Bauch- und Kopfschmerzen, Blässe und dieses feine Stechen im Herz sind doch recht offensichtlich, nicht?"

Er schwieg eine Weile, doch dann setzte Louis sich auf und schüttelte den Kopf.
"Spann sie nicht so auf die Folter", flüsterte er rau.

Lew lachte.
"Na dann. Ihr Seelenverwandter ist gestorben und auch wenn ihr Geist sich verschließt, der Körper trauert."

Ich wollte seine Esoterik verspotten, doch aus meiner Kehle kam kein Wort.
Zum Glück übernahm Louis das Reden.

"Das ist doch Humburg. Was soll denn deiner Meinung nach passieren?", knurrte er.

Lew schenkte ihm einen scharfen Blick.
"Edelmütig, dass du sie schützen willst, wi du doch so viele verloren hast, aber ich will Jule nichts böses.
Und dennoch glaube ich, dass die Trauer sie töten könnte."

Ich begann unwillkürlich zu zittern und Louis packte meinen Arm.
"Wir gehen", erklärte er und zog mich nach draußen.

Erst als die Küchentür zufiel und den Lärm aussperrte, nahm ich Louis Stimme wieder war.
"-deshalb denke ich, dass du kürzertreten solltest."

"Nein, nein." Ich hob die Hände vors Gesicht und ließ mich an der Wand herabsinken.
"Ich habe keine Ahnung, was du in den letzten Minuten gesagt hast, aber ich werde Ivan nicht alleinlassen.
Nicht, so lange es noch Hoffnung gibt."

Louis kniete sich zu mir herunter.
"Das meine ich ja. Ivan wird sterben. Seine Werte werden schlechter und allmälich geht es zu Ende.Wir haben alles versucht, aber wir finden seine Seelenverwandte nicht."
Er erhob die Hand, als wolle er mich berühren, doch dann ließ er sie wieder sinken.

Wie trüb sein Blick geworden war.
Als ob er glauben würde, dass Ivan schon tot wäre.
So wollte ich es nicht enden lassen.
Ich schnaubte und sprang auf.
"Dann sucht weiter", brüllte ich und drehte mich abrupt um.
Ohne weiter auf Louis zu achten, stürmte ich den Flur entlang nach draußen.

*

Sein Geist trieb durch einen schwarzen Fluss.
Immer wieder glitt er über Gedankenfetzen und Erinnerungen, die wie spitze Steine vor ihm aufragten.
Er wollte sich festhalten und aus dem Wasser ziehen, doch die Kanten schnitten in seine Handflächen.
Blut rann in das trübe Wasser.
War es überhaupt Wasser?
Der Schmerz war überwältigend, allumfassend, und löschte jeden Gedanken aus.
Für was lohnte es sich noch zu kämpfen?
Ivan wusste es nicht mehr.
Er ließ sich weiter treiben.

*

Das Buch fiel mit einem lauten Knall zu Boden und blieb aufgeschlagen liegen.
Louis bückte sich, um es aufzuheben.
Sein hecktischer Atem bauschte die Seiten und schlug sie um.
Das vergilbte Papier zeigte Anatomiezeichnungen von Werwölfen und allerlei Mischwesen.
Mit zittrigen Fingern schlug er die Seiten um und landete auf der, die sein Herz so zum Rasen gebracht hatte.

Seelenverwandtschaft und all ihre Hindernisse

Für den einen mag dieses Thema die Bürde unsres Daseins darstellen und für den anderen ist es das Süßeste, dass das Paradies je hervorgebracht hat.
Ein gleichberechtigter Partner in jeder Entscheidung, eine Schulter zum Ausweinen und Herz voll Liebe.
Die Rede ist von Seelenverwandten, die in diesem Kapitel näher behandelt werden sollen.

1. Die grundsätzlichen Eigenschaften einer Seelenverwandschaft
2. Handlungsempfehlungen
3. Verweigerung eines Partners
4. Tod eines Partners
5. Seitensprünge

Louis blätterte hastig zu Punkt vier, als hätte der Sturz den Inhalt des Buches verändern können.
Er wollte sich ganz sicher sein, sich vergewissern.

Ein Tod ist ein ungemein tragisches Erlebnis, doch der Seelenpartner spürt diesen Schmerz ganz ungebrochen.
Selbst wenn er sich (siehe Kapitel 3) verweigert hat und emotional nicht an seinem Partner hing, kann der Verlust, sollten sich die beiden bereits begegnet sein, schwere Folgen haben.
Erste Symptome sind meistens Kopfschmerzen und Übelkeit, häufig auch Infektionen und ein leichtes Schwächegefühl.
Die Haut wirkt blass und kalt.
Später wird der Allgemeinzustand schlechter und sogar ein plötzlicher Tod ist möglich.
Etwa 90% sterben recht jedoch recht langsam an Herzversagen, durch ein infarkähnliches Geschehen.

Louis legte das Buch nieder und rieb sich die Augen. Er würde auch sie verlieren.
Inzwischen hielt er Jule für eine gute Freundin und der Gedanke, auch sie zu Grabe tragen zu müssen, schmerzte.

Er schlug den Wälzer zu und stand auf.
Die letzten Sätze zur Behandlung der Erkrankung hatte er bereits gelesen. Auch sie brachten keine neue Hoffnung.
Das Buch war alt und konnte nichts zu moderner Medizin sagen, es empfiel nur Bettruhe und stärkende Brühen.

*

Ich legte meine Hand auf Ivans blasse Haut.
Er hob sich kaum noch von der weißen Bettdecke ab.
Sein blondes Haar war gebürstet worden, doch er hatte sich bewegt, vielleicht sogar gekrampft, und so stand es wirr von seinem Kopf ab.
Ein bisschen wirkte Ivan wie ein aus dem Nest gefallenes Kücken.

"Wir werden beide sterben", hauchte ich.
Schon lange hatte ich nicht mehr gehofft, dass er sich bewegte, mir ein Lebenszeichen gab, doch heute sah ich wieder auf seine Hände.
Wie immer, nichts.

"Die Wahrheit klingt so grausam, nicht?"
Ein trauriges Lächeln überzog mein Gesicht.
Ich hatte den Glauben verloren.

"Wer sagt, dass es wahr wäre?", erklang eine heisere Frauenstimme hinter mir.

"Alle. Alle sagen das", erwiderte ich, ohne aufzusehen.
"Was wollen Sie hier überhaupt, das sind Privaträume."

Die Schritte der Frau näherten sich.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter.

"Ach, Jule. Es gibt immer Licht und Hoffnung, auch wenn du lange durch den Schatten streifen musstest. Für Ivan gilt hier  wohl dasselbe."
Ihre Stimme war leiser geworden, leiser und gequälter.
"Vielleicht kann ich euch ja doch helfen."

Ich schüttelte bloß den Kopf.

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