Kapitel 19

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Unruhig glitt der Blick des Werwolfs nach draußen.
Regen prasselte gegen das Fenster und seine Finger klopften im selben Takt gegen den Stuhl.
Er war wütend.
Das Ziel war in Sichtweite gewesen und so hatte ihn die Nachricht seines Vetters tief fallen lassen.
Ein Krieg. Galle stieg in ihm auf.
Was hatte seinen Vetter nur so machtgierig gemacht, dass er sein ganzes Rudel nach Amerika schickte?

Eine leise Frauenstimme durchbrach die Stille.
"Was ist los?"

Der Werwolf vermied es ihr in die Augen zu sehen.
Seit seiner Gefangenschaft war seine Seelenverwandte nicht mehr gut auf ihn zusprechen. Sie sah einen Mörder in ihm.
Ein Monster.
Sein Atem stockte und er ballte die Hand zur Faust.
Vielleicht war er längst eines.
Und doch, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, ist sie bei dir geblieben.
Der Werwolf dreht sich zu seiner Seelenverwandten um.

"Wie geht es ihr?", fragte sie.
Ihre leise Stimme ließ sie noch ängstlicher und unpassender in seiner Welt wirken.
Sie war der Schmetterling auf seinem Kugelhagel und er war nicht sicher, wie lange er sie noch zu schützen vermochte.

Seine Kiefermuskulatur spannte sich an und er vertrieb den Gedanken.
So weit würde es nie kommen.
Er war nicht schwach.

"Was hast du gesagt?"

Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht, doch die Sorge vertrieb es wieder.
"Wie geht es Jule?"

Der Mann zog die Schultern hoch.
Er wusste es nicht. Die erste Nachricht war zwar angekommen worden, doch Grahams Angestellten hatten seine folgenden Briefe abgefangen.

"Wir können nur hoffen", gestand er und legte seiner Verlobten eine Hand auf die Schulter.
Der Krieg hatte sie verändert.

Vielleicht war es auch nur er, der sich verändert hatte, doch diesen Gedanken verdrängte der Werwolf.
Der Krieg bricht die Menschen und poliert die Wölfe, hatten seine Ausbilder gesagt.
Inzwischen zweifelte er.
Er hatte zu viele Werwölfe brechen sehen.
Doch auch er wollte die Risse in seinem Inneren nicht sehen, kein Salz in kaum verheilte Wunden streuen.

Der Werwolf räusperte sich.
"Nun, bald ist sie frei. Ich werde mich gleich auf den Weg machen."
Er zog die Frau kurz an sich und sog ihren Duft ein. Vielleicht das letzte Mal.
Doch auch der Lavendelduft wurde durch Angstschweiß verfälscht.

Graham presste sein Handy ans Ohr.
"Wenn du das nicht unter Kontrolle bekommst, werde ich Konsequenzen ziehen müssen."
Ein Knurren drang aus seiner Kehle.

Mein Blick wanderte über seine angespannte Miene.
Es schien etwas passiert zu sein.
Vielleicht war das der Anfang vom Ende, der Beginn meiner Flucht.
Vorfreude durchströmte mich.

"Ich will nichts mehr davon hören", brüllte Graham in sein Telefon und legte auf.
Er rieb sich die Augen.
"Wieso bist du noch hier, Honey? Du solltest doch rausgehen, wenn ich telefoniere."

Seine Stimme war erstaunlich sanft, doch ich senkte den Blick.
"Es tut mir leid."

"Das muss dir nicht leidtun."
Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht, als er mich musterte.
"Ach, Jule."
Er blieb an meinen Lippen hängen, doch schließlich glitt sein Blick zu meinen Augen.
Das Gelb hatte sich getrübt.
Schon lange waren seine Augen nicht mehr braun gewesen.
Es wurde immer dunkler, seit er mich wieder hatte.
Und mit dem Braun schwand auch die Wärme aus seiner Seele.
Er war fort.
Tränen sammelten sich in meinen Augen.

"Nicht weinen", flüsterte Graham in mein Ohr.
Sein Atem brannte auf meiner Haut.
Wie oft ich doch schon Angst vor ihm haben musste.
Und jetzt war da Mitleid.
Fast schämte ich mich dafür, doch ich wusste, dass der wahre Graham schon lange tot war.
Der Wahnsinn hatte ihn gestohlen, ihn zerrissen und zu dem Monster gemacht, das er heute war.

"Manchmal weiß ich nicht-"
Er brach ab und küsste mich.
Der Kuss war sanft und ich schmeckte den Abschied darin.

Der heutige Tag würde uns wieder zu erbitterten Feinden machen und die Linie schärfen.
Ich war dankbar dafür.
Die Gewalt, die ich hier erleiden musste, hatte mich nicht nur körperlich geschwächt, sondern mich an den Rande des Wahnsinn gebracht.
Mein Verstand wusste, dass ich Graham hassen musste, doch meine Seele lechzte nach Aufmerksamkeit.
Nach seiner Aufmerksamkeit.
Die Einsamkeit machte mich krank, die ständige Angst zerstörte mich.

"Es tut mir leid, das alles tut mir leid. Ich habe dich mal geliebt, irgendwann mal, irgendwie. Und jetzt-"
Er stockte.
Für einen Moment huschte ein Lächeln des alten Grahams über das Gesicht meines Seelenverwandten, doch dann wandt er sich ab und verließ das Zimmer.
Ich war wieder allein.

Mit wackligen Knien ließ ich mich auf einem Stuhl nieder.
Was war das gewesen?
Wie fühlte sich das so nach Abschied an?
Mein Herz schmerzte mehr, als es sollte, doch es fühlte sich nicht nach Liebeskummer an.
Nein, ich trauerte um jemanden, der schon lange tot war und dieser Moment hatte mich nur an ihn erinnert.

Graham war gestorben und ich konnte nicht anders, als mir eine Mitschuld zu geben.
Wir alle hatten ihn getötet.
Neue Tränen strömten über meine Wangen.
Seine Familie, die in einer Seelenverwandten und einem großen Rudel, den Lebenssinn sah, Ivan, der die Rebellion eingeläutet hatte, und ich.
Ich, die ihn abgelehnt hatte.

Ein Grinsen hing in seinem Mundwinkel, als er in die Küche trat.
Wieder einmal hatte sich gezeigt, dass Graham der Schwächere war.
Er war nicht würdig ein Rudel zu leiten.
Sein Lächeln schwand, als er das Mädchen am Esstisch kauern sah.
"Jule? Jule? Was hat er mit dir gemacht? Jule, bitte, sprich mit mir."

Sie wehrte sich nicht, als er sie in seine Arme zog und nur ihr zittriger Atem verriet ihm, dass sie noch lebte.
Nein, dass war nicht, was Ivan von ihm gewollt hatte.
Er war zu spät gekommen.
Der Werwolf presste die Lippen zusammen.
Für Schuldgefühle war nun keine Zeit.
Er trug Jule nach draußen, legte den bewegungslosen Körper fast zärtlich ins Auto und doch dachte er nicht mehr an sein Versprechen.

Die Gedanken kamen erst wieder, als der Werwolf wieder zuhause in seinem Büro saß.
Das Mädchen wurde von Florence umsorgt und doch, glaubte der Werwolf nicht, dass sie wieder gesund werden würde.
Sie hatte ihr Herz an zwei Männer verloren und beide waren gestorben.
Ivan war bis zu Unkenntlichkeit zerbissen worden und Grahams seelenlose Hülle würde wohl im nächsten Krieg ihr Leben aushauchen.

Auch Louis hatte keine Hoffnung mehr für sich.
Nur noch Florence hielt ihm am Leben, doch seine Gedanken töteten jeden Tag ein Stück mehr von ihm.
Er hatte das Leben seiner Freunde verkauft und damit seine Seele verwirkt.
Dafür würde er ohnehin einen hohen Preis zahlen müssen, doch damit hatte Louis bereits abgeschlossen.
Nur die Schuld trug er noch auf den Schultern und nun drohte sie ihn zu übermannen.
Sein Atem rasselte.
Er hatte Ivan verkauft.
Leben für Leben.

Louis Finger strichen die Schubladen seines Schreibtischs entlang.
Das dritte Fach öffnete er und zog ein unscheinbares Blatt Papier und eine Feder hervor.
Ja, die französischen Werwölfe besaßen noch Stil.
Sein Grinsen saß schief, doch Louis begann zu schreiben. Die Tinte färbte das Papier dunkelblau und ihre Zeichnen versteckten nur notdürftig seine Angst.
Er schrieb um ihr Leben.
Vielleicht würde es sein letzter Brief werden.

Heyyy,
Und wer hat es gewusst? ;)

Freut mich, dass ihr wieder da seid.
Ich hoffe, dass euch dieses Kapitel nicht zu sehr verwirrt.
Dieses Mal habe ich ja doch ein paar Auflösungen und Wendepunkte reingehauen ;)
Wie gefällt es euch?

Nun zu den Theorien, mein Lieblingspunkt heute... hehe.

Wie denkt ihr über Graham?

Was hat Louis nur für Ivans Leben bekommen?

Und was steht wohl in diesem mysteriösen Brief? ;)

Bis bald im nächsten Kapitel,
Kuchenstreusel

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