Meine Finger zitterten, als ich nach Ivans Hand griff.
Sie war kühler als sonst und ein Schweißfilm hatte sich auf seiner Haut gebildet.Erneut war Blut durch den Verband gedrungen und die Geräte, der seine Vitalparameter anzeigten, piepten hektisch.
Eine junge Frau stürzte herein und spritze ein Mittel in seinen Venenzugang, ohne Kenntnis von mir zu nehmen.Ich fühlte mich wie ein Beobachter. Während meine Gedanken stockten, verrann die Zeit wie Sand in meinen Fingern.
Jede Sekunde nahm mir mehr von Ivan.
Ich hatte ihn bereits totgeglaubt, doch nun starb er vor meinem Augen.Ein Stöhnen drang von seinen Lippen.
Der bleiche Körper krümmte sich zusammen.
Ich fuhr über Ivans Stirn. Sie glühte.
Sein Gesich war aschfahl und hatte sich gelblich gefärbt.
Nierenversagen, hatte ein Arzt gesagt und eine weitere Maschine angeschlossen.
Dialyse, das klang nach alten Menschen und Tod.Ich presste Ivans Hand an die Brust, als sich die Tür hinter mir öffnete.
Die Schritte des Mannes waren unregelmäßig, er hinkte, und ich wusste, dass Louis hinter mir stand.
Der Arzt hatte gesagt, dass sein Bein wohl nie wieder heilen würde.Louis seufzte schwer und der Sessel hinter mir knarrte.
"Ich habe mit dem Arzt gesprochen", fing er an.
Seine Stimme klang schleppend und rau."Er hat gesagt, dass keine Hoffnung mehr besteht, und uns nur eine Möglichkeit genannt."
Mein Mund wurde trocken und mein Herz pochte.
Wieso sprach Louis so freudlos und drückte sich so vorsichtig aus?
Wie schlimm konnte diese Option schon sein?"Bitte", hauchte ich, den Blick nur auf Ivan gerichtet, "bitte, erzähl mir davon."
Ein weiteres schweres Seufzen.
"Ich habe gewusst, dass du das sagst.
Der Professor glaubt an die Macht der Seelenverwandtschaft. Wir sollen nach Russland fliegen, da die Seelenverwandten meist im selben Stamm geboren werden", erklärte Louis.
Seine Begeisterung blieb aus und auch ich schloss die Augen vor Kummer.Ich musste ihn gehen lassen, um ihm am Leben zu erhalten.
Die Entscheidung war einfach und doch legte sie sich wie eine schwere Last auf meine Schultern.
"Wann fliegen wir?""Ich wusste, dass du das sagst", meinte Louis wieder.
"Der Flug geht morgen.
Es ist ein Privatflugzeug für Krankentransporte, mit dem wir nach Russland fliegen, vermutlich mit Zwischenstops."Ich strich über Ivans Hand.
"Du schaffst das."*
Louis saß in seinem Büro und dachte über den Blick in Jules Gesicht nach.
Sie hatte so entschlossen gewirkt.
Zweifelsohne war sie stark, doch was ging in ihrem Inneren vor?Der Werwolf dachte an Graham, der auf dem Flur sein Leben gelassen hatte.
Als er die Leiche gesehen hatte, war es ihm kalt über den Rücken gelaufen.
Ivan hatte ihn entstellt und nur das Gesicht unversehrt gelassen.
Man hatte den Schmerz in Grahams verzerrten Zügen lesen könen.All die Bisswunden, die Graham ein langsames Verbluten beschert hatten, zeugten nur von Ivans Grausamkeit.
War das der Schmerz, den er hatte erdulden müssen?
Louis wusste es nicht.
Es war nicht mehr sein Kampf, er spielte keine Rolle mehr für den Fortlauf dieser Geschichte, doch das Beobachten machte ihm Spaß.Er stand auf und streifte eine Jacke über.
Der Moment war lange genug herausgezögert worden.
Stumm trat er durch den Gang nach draußen, wo ihn Nieselregen empfing.Der Wind peitschte Jule das Haar ins Gesicht, doch ihr Gesicht war kalt und wächsern wie eine Maske.
Louis hatte sie immer für eine unbedeutenden Statistin gehalten, doch die Machtverteilung kam ins Rutschen.
Die Rolle des Franzosens wurde immer kleiner, während Jule damit begann, die Söldner zu befehligen.
Sie nahm durch die Erbfolge Ivans Platz ein und setzte wohl alles daran, ihn auszufüllen."Ladet ihn in den Hubschrauber ein", rief sie nun über den Sturm hinweg.
Kein Bitte, kein vielleicht.
Louis zog die Augenbrauen hoch.Die Söldner gehorchten und Jule stieg hinter dee Trage ein.
Louis nickte unmerklich und nahm den Platz neben dem Piloten ein.Er sah, dass der Mann in sein Headset sprach, vermutlich zu Jule.
Schließlich kam eine Antwort und der Hubschrauber hob ab.*
Ich schloss die Augen, obwohl ich den Wunsch nach Schlaf aufgegeben hatte.
Vor einer halben Stunde waren wir aus dem Hubschrauber ins Flugzeug gestiegen.
Eigentlich sollte der Flug ruhig werden, doch die Piloten hatten mit Turbulenzen zu kämpfen.
Harmlos, wie sie meinten."Jule?"
Eine fremde Frauenstimme, die mich mit Vornamen ansprach.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und sah auf."Ja?" Fast wollte ich missbilligend mit der Zunge schnalzen. Der Stress und der Schlafmangel vertrieb die letzte Freundlichkeit in mir.
"Es geht um Ivan."
Plötzlich war ich hellwach und in Alarmbereitschaft."Was ist mit ihm?", hauchte ich und sprang auf.
Die Frau schürzte die Lippen.
"Kommen Sie besser mit."Als ich das Krankenzimmer betrat, fiel mir nichts auf.
Der prüfender Blick auf den Monitor zeigte eine leicht erhöhte Temperatur und einen schnellen Puls, doch sonst hatte sich nichts verändert."Wir haben einige Laborergebnisse erhalten und eine Infektion festgestellt.
Der Keim ist prinzipiell bekannt, doch wir fürchten Resistenzen.
Damit gab es hier schon öfter Probleme."Ich konnte nur den Kopf schütteln.
Wieso setzte der Tod alles daran, Ivan in seine Finger zu bekommen?
Ich rieb sich die Augen, um meine Tränen zu verbergen."Was können wir tun? Veranlassen Sie weitere Tests, sofort."
Meine Stimme enthielt ungewohnte Strenge, doch wenigstens gehorchte die Ärztin sofort."Ich werde mich für eine Telefonkonferenz zurückziehen", meinte sie nur und neigte den Kopf.
"Tun Sie das", erwiderte ich, ohne dem Blick von Ivan zu wenden.
Ich hatte ihn noch nie so zerbrechlich sehen müssen.
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Astheneia
WerewolfWas ist wahre Liebe? Jule hat einen Plan vom Leben, doch als Graham plötzlich in ihr Leben tritt, gerät ihre Welt ins Wanken. Und dann trifft sie Ivan wieder. Ivan, der vor zwei Jahren unter mysteriösen Umständen verschwunden ist und dabei Jules Her...