Kapitel 20

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Mein Hals war ausgedörrt und jeder Muskel in meinem Körper schmerzte.
"Hallo?", krächzte ich und richtete mich auf.
Ich war allein, doch der Geruch eines seltsam vertrauten Frauenparfüms lag in der Luft.
Meine Augen verengten sich, als ich den Duft einsog. Das konnte nicht sein.
Ich schüttelte den Kopf.

In solchen Momente wünschte ich mir die Sinne eines Werwolfs.
Graham hätte gewusst, wer hier gewesen war und sich nicht von schwachsinnigen Erinnerungen an die Toten ablenken lassen.
Mein Brustkorb wurde eng.
Auch er war tot.
Der Geist war gestorben und auch seine Hülle trieb unaufhaltsam in den Tod.

Ich hatte so viele Menschen getötet.
Mein Magen wurde flau.
Eilig stand ich auf und stürmte auf die Tür zu, hinter ich die Toilette vermutete.
Ich kniete mich vor die Kloschüssel und würgte, doch mein Magen war leer.
Vermutlich hatte ich seit einem Tag nichts gegessen.

Erschöpft rollte ich mich auf dem Fliesenboden zusammen und begann zu schluchzen.
Tränen rannem über mein gerötetes Gesicht.
Alle, für die ich etwas empfunden hatte waren tot, und ich war schuld.
Die Panik bildete ein festes Knäuel in Hals.
Jeder in meiner Nähe geriet in Gefahr.

"Jule?"

Ich erkannte die Stimme nicht und auch die Gesichtszüge verschwammen in den Tränen.
Erinnerungen prasselten auf mich ein.
Sie nahmen mir die Luft zum Atmen und hinterließen ein bleiernes Schuldgefühl.
Ich hatte sie alle getötet.

Florence richtete meinen zitternden Körper auf und zog mich an ihre Brust.
"Ich bin froh, dass du noch lebst", flüsterte sie und strich mir eine Haarsträhne zurück.

Mein Blick glitt immer wieder in Leere, doch ich nahm die Frau neben mir nun wahr.
"Florence?", hauchte ich heiser.
Das Mädchen nickte.
"Du lebst?"

Ein Lächeln überzog ihr Gesicht, doch verschwand eben so schnell wieder.
"Louis musste dich anlügen. Es tut mir leid", erklärte sie und wiegte mich weiter in den den Armen wie ein kleines Kind.
Ihre Stimme drang wie durch Watte zu mir und die Bedeutung der Worte kam nicht an, doch der rhymisch Klang beruhigte mich.

Florence hievte mich aus dem Bad und legte mich schließlich auf das Bett.
"Ich hole uns etwas zu essen", meinte sie und zwinkerte mir zu.
"Bin gleich wieder da", fügte das Mädchen noch hinzu und verschwand aus der Tür.

Mein Blick klärte sich und ich atmete tief durch.
Dann stand ich auf.
Sich von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen, wäre zu gefährlich.
Erst musste ich herausfinden, wo ich hier war und was geschehen war.
Die Erinnerung an meine Flucht war verschwommen.

War es wirklich Louis gewesen, der mich gerettet hatte?
Und wieso lebte Florence noch?
Mein Kopf begann zu pochen.
Ich schien betäubt worden zu sein, was auch die Übelkeit und das Wattegefühl in meinem Kopf erklären würde.
Aber wieso?
Ich war bei meiner Rettung doch ruhig geblieben.

Kopfschüttelnd schleppte ich mich zum Fenster und spähte hinter dem Vorhang hervor.
Das Haus schien im Wald zu liegen.
Tannen, sicher dreißig Meter hoch, schützten das Anwesen vor Blicken, nahmen mir aber auch die Chance, meine Umgebung zu erkennen.
Ich vermutete, dass wir uns wieder in Kanada befanden, da Ivan über Louis' Anwesen und seine beeindruckende Lage gesprochen hatte.

Leider erinnerte ich mich nicht an den Ort, doch meine Hoffnung zu entkommen schrumpften mit jeder Person, die ich auf dem Rasen entdeckte.
Es mussten mindestens fünfzig sein.
Menschen jeden Alters schwirrten über den Platz und schwatzen. Sie wirkten entspannt und ich schätzte, dass es sich um ein Rudeltreffen handelte.

Die Tür hinter mir quietschte und ich schoss herum.
Florence stand mit erhobenen Händen im Raum. Sie sah aus, als wollte sie ein Raubtier beruhigen.
Meine Hand umklammerte die Fensterbank.
Dieser Krieg schien uns alle zu zerstören.

Betont freundlich lächelte ich ihr zu und nahm mir ein Sandwich von dem Tablet, dass sie in der Eile auf ein Tischchen gestellt hatte.
"Was ist da drauf?", fragte ich und musterte den Belag.

"Tomate-Mozzarella, ich hoffe das schmeckt dir."
Das war meine Lieblingssorte, doch ich war zu misstrauisch, um das für einen Zufall zu halten.

"Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?", bat ich Florence und setzte mich wieder aufs Bett.
Das Mädchen nickte und ließ sich neben mir nieder.

"Wo sind wir hier?"

Die Frage schien Florence in Bedrängnis zu bringen, doch schließlich nickte sie.
"Nun, das ist der amerikanische Stützpunkt unseres Rudels. Also Louis' Rudel, doch inzwischen habe ich meine Rolle als rechtmäßige Luna an seiner Seite angenommen.
Wobei- Hier leben verschiedene Rudel zusammen.
Das ist das Versteck der europäischen Revolutionäre."
Stolz sprach aus ihrer Stimme, doch ich bemerkte, dass sie meine Frage nicht beantwortet hatte.

Der Gedanke, dass auch Florence mir nicht vertraute, versetzte mir einen Stich.
Ich beließ es jedoch bei ihrer Antwort und fragte weiter.
"Was ist euer Plan?"

"Wir wollen den neuen amerikanischen Rudeln die Macht über die Werwölfe hier wieder entreißen. Sie haben sich unrechtmäßig an die Spitze gesetzt und stellen ihre Bedürfnisse und den Reichtum an erste Stelle. Darunter leiden ihre Wölfe", erklärte die junge Frau ernst.

Ich war mehr und mehr schockiert.
Sie schien völlig hinter ihrer Bewegung zu stehen und nicht zu bemerkten, dass auch die Europäer keine weißen Westen trugen.
Mit Schaudern erinnerte ich an die Geschichten, die Ivan mir erzählt hatte.
Diebesbanden, Auftragsmörder und grausame Erbschaftsmorde.
Nein, die Geschichte der Rudel war keine schöne.

"Und wie wollt ihr das schaffen?", fragte ich und konnte einen misstrauischen Blick nicht verbergen.

Florence grinste mir zu.
"Unser Plan ist bereits am Laufen und du hast eine ganz entscheidende Rolle gespielt", erklärte sie.
"Das ist der Anfang vom Ende."

Ich erschauderte.
"Wieso hat Louis eigentlich gelogen?"
Mein Puls schoss hoch, als ich mir etwas auffiel. Louis war der einzige, dem ich die Geschichte von Ivans Tod geglaubt hatte.
"Und bedeutet das, dass Ivan noch am Leben ist?", hauchte ich.
Ich versuchte die aufkommenden Glücksgefühle und Hoffnungen zu unterdrücken, doch es gelang mir kaum.

"Nein."

Mein Atem fror ein und ich drehte den Kopf zu Florence.

"Er ist tot. Gestorben bei einer unüberlehten Befreiungsaktion.
Grahams Handlanger haben ihn in der Luft zerrissen."
Sie erschauderte. "Seine Leiche war wirklich kein schöner Anblick, doch ich habe mich mit eigenen Augen von seinem Tod überzeugt."

Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte die Tränen zu unterdrücken.
"Aber es könnte doch jemand anderes gewesen sein."

"Jule."
Die junge Frau legte ihre Hand auf meine.
"Sie waren nur zu fünft und zwei haben es überlebt. Insgesamt wurden vier Leichen gefunden.
Zwei Wolfsleichen waren eindeutig identifizierbar und die anderen Männer waren überrascht worden.
Sie hatten es nicht mehr geschafft sich zu wandeln und trugen noch ihre Kleidung."

Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten, als Florence weitersprach.
Jeder Satz brannte wie Salz in meiner Wunde.

"Einer von ihnen war ein Handlanger und d,er andere war Ivan.
Auch wenn seine Leiche verstümmelt war, er musste keine Schmerzen erleiden.
Sie haben ihm die Aorta zerfetzt und danach den toten Körper geschändet."

Mein Atem ging stoßweise und neue Tränen strömten über mein Gesicht.
Ich wollte das nicht wahrhaben.

Auch Florence schien die Ivans Tod nahe zu gehen, doch sie schien vor allem Hass aus der Geschichte zu ziehen.
Ihre Gesichtszüge waren wutverzerrt und nichts erinnerte mehr an das schwache zierliche Mädchen von damals.

Ja, der Krieg hatte uns alle verändert, doch noch konnte ich nicht sagen, ob wir die Kämpfe so überleben würden.

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