Prolog - Jäger und Gejagter

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Das elfjährige Mädchen schlich durch das hohe rote Gras.
Zum ersten Mal in ihrem noch jungem Leben hatte sie diese Aufgabe von ihren Eltern übertragen bekommen.

Sie hatte die Ohren gespitzt, jederzeit bereit, um der Gefahr auszuweichen. So wie sie es gelernt hatte.
Ihr Ziel war nur noch wenige Meter entfernt.
Nahezu lautlos näherte sie sich dem Akul, welcher sich gerade über den leblosen Körper seines letzten Opfers hermachte.

Auf ihrem Heimatplaneten waren diese Jäger der letzte natürliche Feind ihres Stammes.
Es war lebensgefährlich, einem solchen Tier gegenüberzustehen, und nur wenige überlebten diesen Kampf.
Doch es war gleichzeitig auch ein Ritual. Ein Brauch für ihre Spezies, und erlegte sie das Tier, so durfte sie sich aus den messerscharfen Zähnen einen Kopfschmuck gestalten.
Sie wäre in diesem Fall eine von wenigen gewesen, welche diesen Ritus überstanden hätten und das Mädchen plante bereits, was sie mit den Zähnen anstellen würde.

"Zurück in die Realität", ermahnte sie sich schließlich. "Erst einmal musst du das Ding erledigen."
Wie allerdings sollte sie etwas erlegen, wenn sie nicht einmal ihre normale Waffe bei sich tragen durfte?

Bevor sie aufbrach, war es ihre Mutter, welche ihr die Waffe abgenommen hatte, die sie schon seit langem mit sich trug und inzwischen zu einer natürlichen Verlängerung ihres Armes geworden war.
"Denke zu jeder Zeit daran, dieses Werkzeug ist so wertvoll wie dein Leben", sagte man ihr immerzu.
Ja, aber wieso musste ich diese dann gerade jetzt abgeben?, dachte das Mädchen sich.

Man gab ihr zwar einen Dolch, aber viel lieber hätte sie ihre andere Klinge gehabt.
Sie drückte sich so weit auf den Boden, wie es ihr möglich war. Dieses Tier durfte sie nicht sehen, noch nicht.

Das Mädchen schloss die Augen und sog die Umgebung in sich ein.
Das frisch riechende Gras, die rot-grünen Bäume, gespickt von kleineren Hügeln und Felsvorsprüngen.
Und in der Mitte sie und der Akul. Nun waren sie nur noch einen Sprung voneinander entfernt.

Das Mädchen spürte die Macht in dieser Natur so stark, dass die feinen Fäden und Verflechtungen der einzelnen Dinge wie Sand in ihren Händen war.
Feiner, sanfter Sand, welchen sie durch die Finger gleiten lassen konnte.
Sie verschmolz mit ihrer Umgebung, je weiter sie sich in die Macht fallen ließ.

Langsam schloss das Mädchen ihre Augen und kam dem Tier, welches noch immer keine Witterung aufgenommen hatte, näher.
Die schmatzenden Laute und das Geräusch von zerreißendem Gewebe und Fleisch brachte sie zwar durcheinander, aber sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen.
Diese Jäger rochen sofort, wenn sich jemand näherte, der Angst vor ihnen hatte.
Aber sie hatte keine Angst.
Denn sie war besonders.

-

"Bist du dir sicher, dass sie das schafft?", fragte der Mann, welcher einige hundert Meter entfernt auf einem der Vorsprünge saß und durch sein Fernglas das Mädchen beobachtete.
"Ja", antwortete die Frau neben ihm nur.

Das reichte dem Mann aber nicht wirklich.
"Sie ist erst elf Jahre alt. Das ist viel zu gefährlich. Warum muss sie das jetzt schon machen?", fügte er hinzu.
Nun drehte sich die Frau zu ihm. "Es ist Tradition in meinem Volk. Du gehörst doch auch schon seit über zehn Jahren dazu, du solltest das doch wissen."

Der Mann hörte den schnippischen Unterton zwar heraus, doch war er nicht in der Lage, darauf einzugehen.
"Ja, aber bisher musste sie das ja auch noch nicht machen. Ich musste diese 'Tradition' bisher immer nur bei anderen deiner Art mitansehen", antwortete dieser.

Die Frau lachte herzhaft.
"Was ist daran so witzig?", wollte der Mann wissen.
"Es ist schon erstaunlich, dass gerade du dir Sorgen machst. Du bist geflogen, da warst du noch wesentlich jünger als sie", konterte die Frau und zeigte auf das Mädchen.

"Aber ...", begann der Mann.
"Nichts 'aber'", schnitt sie diesem sofort das Wort ab und wandte sich wieder dem Akul und dem Mädchen zu. "Sie wird das schaffen."
Hinter ihnen wurde es unruhig. Genervt schaute die Frau zu dem Mann und nickte mit dem Kopf nach hinten.
"Kümmer' du dich endlich mal um die Kinder. Du machst mich hier eh noch wahnsinnig."

Der Mann protestierte, tat danach aber, wie ihm geheißen.
Stöhnend erhob er sich und ging einige Meter den Abhang herunter.
"Was ist hier los?", fragte er mit verschränkten Armen eine Gruppe von Wesen.
"Nichts", antwortete einer von diesen. Er war Pau'aner und größer als der Mann, welcher ihn fragte. "Der Junge hier war nur etwas vorlaut."
Er gab dem rothaarigen Mann einen Klaps auf dessen Hinterkopf, was dieser mit einem Jaulen kommentierte.

"So?", fragte der Mann und stellte sich vor den Rothaarigen. Er fragte nichts, aber sein Blick war so eindringlich, dass sein Gegenüber sofort losplauderte.
"Ich wollte nur wissen, wann es hier endlich mal spannend wird."
Ihm war die Situation wahrlich unangenehm, das wusste der Mann sofort. Schmunzelnd führte er ihn ein Stück näher an den Abgrund.

"Vielleicht sollte ich statt des Mädchens dich als nächstes da hinschicken."
Sofort wich der Junge einen Schritt zurück.
"Bloß nicht, nicht bei allem, was ich davon gelesen habe."
Mit einem Grinsen schaute der Mann ihn an.

"Na dann, gedulde dich."
Die Frau drehte sich hastig zu ihnen um. "Es geht los."
Sofort kamen der Mann und die Gruppe näher.
Die hinteren in der Traube flüsterten leise, als sie die Situation vor ihnen sahen.

"Ich sage, sie schafft es nicht", sagte ein Mann, der voll in seinen Mittvierzigern war.
Sofort raunzte ihn ein anderer Mann an, ebenso alt, welcher dessen Zwilling gewesen sein konnte. Allerdings hatte dieser wesentlich weniger Haare auf dem Kopf, dafür einen grauen Bart.
"Natürlich wird sie das schaffen. Sie hat gute Eltern."

Prustend drehte sich der erste zu seinem Bruder um.
"Zwanzig darauf, dass das Ding gewinnt."
Entsetzt schaute der Bärtige diesen an. "Auf das Leben eines Kindes wetten? Ist das dein Ernst?"
Sein Gegenüber grinste triumphierend. "Ich wusste es doch, dass du Bammel hast wie ein Dug vor einem Rancor. Vierzig."

Der Bärtige schüttelte abwertend den Kopf und betrachtete wieder das Feld mit dem Mädchen und dessen Ziel.
"Deal."
"Ruhe da hinten", rief die Frau vor ihnen.
Auch sie war nun doch etwas angespannter als sie zugeben wollte. Doch sie hatte dem Mädchen bereits alles über dieses Tier beigebracht, was sie konnte.
Jetzt musste es ihr Wissen nur noch umsetzen.

-

Das Mädchen war nun fast am Ziel. Der Akul hatte sie noch immer nicht gehört, dabei konnte sie diesen beinahe berühren.
Langsam zog sie den Dolch hervor und steckte diesen zwischen die Zähne.

Sie hatte nur einen Versuch.
Zu viele hatten den Tod gefunden, als sie in dem Irrglauben mit einem Akul kämpften, um es auszulaugen.
Ein Akul hatte keine Schwächen in seiner Ausdauer. Es konnte tagelang rennen und töten, ohne ein Anzeichen von Kraftlosigkeit zu zeigen.

Das Mädchen hingegen wusste, wo ein Akul seine Schwachstelle hatte.
Direkt unter seinem Hals war es am verwundbarsten, denn da befand sich das Hauptherz.
Akuls besaßen zwar noch weitere kleine Herzen am Rücken, doch werden diese nicht mehr von dem Hauptherzen versorgt, waren auch sie ohne Versorgung.
Es war, als wollte die Macht, dass jedes Lebewesen einen Schwachpunkt hatte. Auch ein Jäger.

Dem Mädchen musste es also gelingen, auf den Rücken des Akuls zu springen und von dort aus sich unter dessen Hals über den Boden rutschen zu lassen, um das Herz mit dem Dolch zu treffen.
Und das alles schnell genug, damit der Räuber sie nicht abwerfen und mit seinen scharfen Zähnen töten konnte.
Ihre Aufgabe war also klar, doch die Umsetzung war das größere Problem.

Das Mädchen atmete tief ein und fixierte den Rücken des Tieres und danach den Hals.
Es hatte keine Angst.
Es würde auch keine Angst bekommen.
Sie hatte die beste Lehrmeisterin und den besten Lehrmeister.
Denn sie war Kyra, eine Tano.
Und mit diesem Gedanken sprang sie vom Boden ab.

Secrets of the Force - Tano Chronicles Part 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt