01 | Wie man (nicht) in einen Spind einbricht

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Sehr geehrte Miss Penfold

Leider ist es bei der Papierflieger-Lotterie zu einem Fehler gekommen. Die Spind-Nummern der Bradbury-Brüder wurden vertauscht. Daher müssen sie ihren Brief für Bash Bradbury in Spind Nummer 450 (statt 451) deponieren.

Wir entschuldigen uns für die entstandenen Umstände.

Mit freundlichen Grüßen,
Sekretariat Callisto High

Ich sah mein Leben an mir vorbeiziehen. Ich war dabei zu sterben. War das tatsächlich schon das Licht am Ende des Tunnels oder vielleicht nur die Deckenlampe? »Du kriegst mal einen Oscar, so dramatisch bist du, Darlene.« Illian biss von seinem Apfel ab und warf ihn Deli zu, die ihn problemlos auffing. Delilah rollte nur mit den Augen und tätschelte mir beruhigend den Arm, während sie mir mein Handy vorsichtig aus der Hand schälte. »Hör nicht auf ihn, Dar. Er redet Unsinn.«

»Immerhin habe ich nicht den falschen Spind erwischt«, schoss dieser zurück und schnippte ihr gegen die Stirn. Delilah strich sich ihre lange, blonde Haare hinters Ohr, während sie ihren Bruder mit einem bösen Blick musterte. Sie versuchte mir einzureden, dass die Situation nicht annähernd so schlimm war, wie ich es mir vorstellte, aber vermutlich war sie sogar noch tausendmal schlimmer. Diese E-Mail beendete mein Leben und ich spürte es tief in mir. Ich ließ meine Stirn ein weiteres Mal gegen einen Spind knallen. Wieso mussten solche Dinge immer ausgerechnet mir geschehen? Ich konnte offensichtlich nicht mit diesem Level an Scham und Erniedrigung umgehen. Illian packte meinen Ärmel und zog mich von dem Metall weg. »Du hast nicht so viele Hirnzellen übrig, als dass du sie einfach umbringen kannst.« Durfte ich vorstellen? Das war mein bester Freund, der charmanteste Mensch, den diese Welt jemals gesehen hatte. Illian Harris war für gewöhnlich tatsächlich ein anständiger Kerl, aber er konnte noch schlechter mit Krisensituationen umgehen als ich.

»Illian!«, zischte Deli ermahnend.

»Deilah!«, äffte Illian nach.

»Darlene!«, warf ich ein, um der Konversation etwas Nützliches beitragen zu können. Wenigstens sorgte es dafür, dass die Zwillinge in der Bewegung stoppten, um mich besorgt zu mustern. Illian war der erste, der es schaffte, sich aus der Starre zu lösen. »Du hast dem falschen Kerl einen Papierflieger in den Spind geworfen. Das ist doch kein Problem, Dar. Sei nicht so dramatisch, okay? Wenn du für eine Sekunde aufhörst, im Selbstmitleid zu baden, finden wir vielleicht sogar eine Lösung dafür.«

Ich schnaubte. Eine Lösung? »Weißt du, wie schlimm das ist, Illian? Wie soll sich eine Normalsterbliche jemals davon erholen können?«

Delilah räusperte sich. »Nun, ich habe ja gesagt, dass du ihm deine Gefühle nicht in einem Brief gestehen solltest. Irgendwie bist du selbst schuld.« Illian riss die Augen auf und ich stöhnte innerlich auf. Das waren vertrauliche Informationen gewesen!

»Du hast was?«, brachte er mit geweiteten Augen hervor.

Ja, was hatte ich eigentlich getan? Das war leicht zu erklären. Jedes Jahr gab es an unserer Schule, der Callisto High, ein besonderes Spiel für die Abschlussklasse. Man zog einen Namen und musste für diese Person aus dem Jahrgang dann einen Papierflieger mit einer persönlichen Botschaft basteln. Das sollte bezwecken, dass die Schülerschaft eine engere Verbindung untereinander schaffen konnte – wobei man anmerken musste, dass es in dem Fall sinnvoller gewesen wäre, dieses Spiel für die Neulinge zu organisieren. Jedenfalls war das alles sehr anonym und man musste auch keinen Namen zu der Botschaft schreiben und eigentlich auch niemandem sagen, wem man den Brief geschrieben hatte. Alle Namen wurden so zugeteilt, dass man ganz sicher nicht von derselben Person ein Briefchen erhielt, der man selbst einen geschrieben hatte. Es gab keinen Weg zu schummeln, man konnte sich lediglich enthalten. Was schade gewesen wäre, aber niemand konnte das verhindern. Eigentlich simpel, oder nicht?

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