»Hast du schon gesehen, dass du neue Prospekte von verschiedenen Colleges gekriegt hast?«
Mein Kopf schoss in die Höhe und ich musterte meinen Vater, der von dem Stapel Post neugierig zu mir blickte. »Nein«, antwortete ich und goss mir nebenbei ein Glas O-Saft ein. Ich gab mir große Mühe die Bewerbungen und das Studium zu vergessen. Es stresste mich, dass ich noch immer keine Entscheidung getroffen hatte. Jedes Mal, wenn ich mich daransetzte, versuchte ich etwas auszuwählen. Ich hatte bisher sechs verschiedene Varianten von möglichen Studienrichtungen zusammengestellt, aber sobald ich die Pläne dann meinen Eltern vorstellen wollte, leerte sich mein Kopf und ich warf die Pläne wieder über Bord, weil ich mir dann plötzlich doch nicht mehr so sicher war oder einen Grund fand, wieso mir diese bestimmte Studienrichtung dann nicht gefallen würde.
»Solltest du dir vielleicht einmal ansehen. Außerdem hat deine Mom gesagt, dass du dir vielleicht mal ein Wochenende aussuchen solltest, um Campis zu erkunden.« Ich nickte, denn das hatte sie mir auch schon gesagt. An und von sich fand ich die Idee nicht schlecht, aber wusste noch nicht einmal, was ich tun wollte, wie hätte ich mich da für ein College entscheiden sollen?
»Wohin möchtest du überhaupt? Es ist Montagnachmittag und du solltest eigentlich Hausaufgaben machen, Dar.« Dad sah mich kritisch an, was er nicht oft tat. Ich versuchte, es zu überspielen. Mir war bewusst, dass meine Eltern nicht blind und vor allem nicht schwer von Begriff waren. Sie kannten mich besser, als mir lieb war und sie wussten, wann, wie und wieso ich mich auf eine bestimmte Art und Weise verhielt. Mom und Dad vermuteten womöglich schon längst, dass ich keine Ahnung hatte, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Sie gingen einfach damit um, indem sie mir genug Freiraum gaben, damit ich mich nicht in eine Richtung gedrängt fühlte. Aber das änderte nichts daran, dass sie wissen wollten, wohin ich ging, wenn ich abends allein das Haus verließ.
»Fotos machen. Draußen sieht es ideal dafür aus. Außerdem muss ich nachdenken-«
»Wofür du deine Kamera brauchst? Du bist merkwürdig, Tochter.«
»Habe ich von dir«, schoss ich zurück, während ein Lächeln meine Mundwinkel umspielte.
»Bleib nicht all zu lang. Ich mache uns beiden inzwischen was zum Abendessen, deine Mom isst bei Freundinnen. Ich will ihr nicht erklären müssen, dass du vermisst wirst.«
»Okey dokey. Lies nicht zu viel Zeitungen. Ich habe gehört, dass davon Wörter auf der Haut zu wachsen beginnen.« Mein Vater lachte und machte eine verscheuchende Handbewegung, damit ich mich endlich aus dem Staub machte und er den Rest seines freien Nachmittags in aller Ruhe genießen konnte. Ich leerte den Rest meines Glases, stellte es in die Spüle und verließ dann das Haus. Draußen hatte wieder das öde Regenwetter eingesetzt, aber das passte zu meiner Stimmung. Ich fühlte mich zwar besser als heute am Morgen, aber gut war etwas anderes.
Am liebsten hätte ich meinen Kopf geleert, den Spaziergang als Ablenkung genutzt, aber ich konnte meine Gedanken nicht abschalten. Vor allem konnte ich das Gesicht nicht vergessen, das in meinem Kopf herumspukte und mich ständig an sich zu erinnern schien. River hatte eindeutig zu viel Platz in meinem Gedächtnis eingenommen und ich hatte definitiv zu wenig Nerven, um mich nun auch noch mit ihm zu befassen. Ich hatte ihn bereits mit zwei weiteren Post-It-Zetteln überzeugen wollen, dass er nur eine Erklärung brauchte. Ich wusste nicht, wieso das so schwer zu verstehen war, aber am Ende des Tages konnte ich ihn nicht dazu zwingen, mir zuzuhören.
Ich seufzte und schloss die Augen, während die Regentropfen sanft meinen Wangen entlang herunterkullerten. Die Welt war so laut, wenn man selbst ruhig war. Verkehr, Menschen, Natur. Alles schien im Einklang zu sein, obwohl alles so gegensätzlich und verschieden war. Ich wusste, dass ich nicht mitten auf dem Gehweg stehen bleiben sollte und dass das die Leute nervte, die es eilig hatten und dann einen Bogen um mich machen mussten. Aber ich war überwältigt und die Emotionen umfassten mich mit einer Wucht, die ich nur in Kunst übertragen wollte. Wie automatisiert öffnete ich meine Augen wieder, blickte dabei aber nur durch die Linse meiner Kamera. Es war einfach, Schönheit zu erkennen, wenn man den Bildausschnitt selbst wählen konnte. Genau wie es auch einfacher war, Menschen zu lieben oder zu hassen, wenn man nur gewisse Teile von ihnen sah oder sehen wollte. Wenn man sich auf die Charakterzüge fokussierte, die man mochte und alles andere ausblendete.
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Kiss Me On Paper
HumorDarlenes Leben besteht aus einem Haufen Unsicherheiten - von der Kleider- bis hin zur Studienwahl. Nur eines weiß sie: Dass sie unbedingt mit dem Football-Captain der Callisto High zusammenkommen möchte. Bash Bradbury ist nämlich alles, was sie bege...