35 | Es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt

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Seit meinem Streit mit River waren mittlerweile zwei Wochen vergangen. Zwei Wochen, während welchen ich auszublenden versuchte, dass ich ihn vermisste und mich nach ihm sehnte. Ich hatte traurigerweise an jedem einzelnen Tag seither Ausschau nach ihm gehalten, ihn aber nirgends in der Schule entdeckt. Bash warf mir teilweise mitleidige und forschende Blicke zu, was dazu führte, dass ich mich fragte, was River ihm erzählt hatte. Irgendetwas musste er ihm gesagt haben, aber ich erkundigte mich nicht danach, nicht einmal, als wir zusammen an unserem Projekt für die Literatur-Klasse arbeiteten.

Illian, Frankie und Delilah fehlten mittags teilweise einzeln, weil sie irgendwo versteckt mit River aßen. Danach starrten sie mich immer ewig an, als versuchten sie, mich zu ergründen. Ich fragte nicht, wie es ihm ging. Ich glaubte nämlich, dass mein Herz nochmal brechen würde, wenn ich hörte, dass er wohlauf war, während ich ihn offenbar nicht vergessen konnte. Aber ich war froh, dass meine Freunde sich immer noch um ihn kümmerten. Sie waren nun auch seine Freunde, was mir mehr bedeutete, als ich jemals laut zugeben würde. Ich wollte nicht, dass River allein war.

»Ich möchte mich einschreiben«, sagte ich an diesem Sonntag zu meinen Eltern. Sie sahen zuerst sich und dann mich fragend an. »Für ein Studium«, präzisierte ich. Ein weiterer geteilter Blick, den nur sie lesen konnten. Dann bedeuteten sie mir, mich zu setzen.

»Was hast du denn ausgewählt, Schätzchen?«, fragte Mom vorsichtig und setze sich, genau wie Dad auch, zu mir an den Küchentisch. Ich räusperte mich und nahm ein Papier aus meinem Rucksack, während ich auf die Schüssel mit den Glückskeksen starrte, die seit dem River-ist-nicht-mehr-in-meinem-Leben-Montag immer gefüllt war und mir Glück bringen sollte. Ich schätzte die Geste, aber ich glaubte mittlerweile, dass meine Eltern einfach eine Sucht entwickelt hatten und durch mich eine gute Begründung gefunden hatten, um daraus einen regelmäßigen Einkauf zu starten. Falls sie versucht hatten, mich ebenfalls süchtig zu machen, hatte es funktioniert. Aber ich gab mir meistens nicht die Mühe, zu viel in die Botschaften zu interpretieren, während wir darum würfelten, wem das tatsächliche Glück gehörte, den letzten übrigen Keks zu vernaschen.

»Ökonomie. Damit kann ich bestimmt einen Beruf in einem Büro finden.« Wo ich mich den ganzen Tag lang verschanzen und verstecken konnte.

»Bist du dir sicher?«

Nein. »Ja?«, antwortete ich, obwohl ich alles andere als sicher klang. Ich hörte es selbst aus meiner Stimme heraus, was frustrierend und verwirrend gleichzeitig war. Ich wünschte mir, dass sie es mir auszureden versuchten, aber sie starrten nur ein wenig niedergeschlagen auf das Formular, das ich bereits ausgefüllt hatte. Es fehlte nur noch meine Unterschrift, aber ich wollte, dass sie es zuerst durchlasen.

»Also wenn du dir wirklich sicher bist...«, begann Dad und reichte mir einen Kugelschreiber, mit dem er Karikaturen in Prospekte gemalt hatte, um Mom zum Lachen zu bringen.

»Zu einhundert Prozent.« Ich nahm den Stift dankbar entgegen und setzte ihn über der punktierten Linie an, während ich mich fragte, wie sich etwas so falsch anfühlen konnte, wenn es doch das war, was ich wollte. Ich räusperte mich und setzte den Kugelschreiber erneut an, konnte mich aber einfach nicht dazu bringen, das Formular zu unterzeichnen.

»I-ich-...«, fing ich an, ließ den Rest des Satzes aber in der Luft hängen. Nach einigen stillen Sekunden legte ich den Stift auf das Papier und holte noch ein anderes Formular hervor. Ich fühlte mich sofort ein wenig leichter, obwohl auf dem Papier Tränen meines vorherigen Zusammenbruchs trockneten, die dazu führten, dass es ein wenig zerknittert war. »Ich habe einige meiner Bilder bearbeitet und dabei ist mir aufgefallen, was ich eigentlich wirklich möchte«, murmelte ich, sodass Mom und Dad mich beide fragend ansahen, weil sie meine Aussage akustisch nicht verstanden hatten. Ich atmete tief durch und wiederholte den Satz ein wenig lauter. Sobald sie meine Worte begriffen hatten, weiteten sich ihre Augen und sie sahen mich überrascht an.

Kiss Me On PaperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt