16 | Sternschwüre

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»Du und deine Ideen, ihr seid beängstigend«, informierte mich River etwas außer Atem. Ich drehte mich zu ihm und zog mir dabei den Pullover, den ich mir zuvor um die Hüfte gebunden hatte, über den Kopf. Hier draußen war es viel kälter als noch in der Stadt und der Wind peitschte mir unablässig ins Gesicht. Vorher waren wir ein Stückchen durch den Wald gelaufen, wo die Bäume uns vor dem Wetter geschützt hatten. Ich rieb meine Hände zusammen, um sie aufzuwärmen. Wenn ich mir nicht zu hundert Prozent sicher gewesen wäre, dass die Aussicht alle negativen Umstände ausradieren würde, hätte ich vielleicht gewartet, bis das Wetter wieder besser war, um mit River herzukommen. Der Herbst brach langsam an und da konnte man sich schon glücklich schätzen, wenn man nicht verregnet wurde.

Trotzdem sah River so aus, als würde er am lieben sofort umkehren, nur um wieder in seinem warmen Auto sitzen zu können. Vielleicht hätte ich ihm sagen sollen, dass er etwas Warmes anziehen sollte.

»Der Wind ist beängstigend. Siehst du meine Haare?«, fragte ich daher, um ihn von seinen Gedanken abzulenken.

River zögerte. »Ja?«

»Gut, denn vielleicht existieren sie am Montag nicht mehr, wenn ich zu viele Knoten drin habe und sie deswegen abschneiden muss.«

»Hilft es dir, so dramatisch zu sein?«

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist nicht dramatisch, das ist verdammt nochmal ernst gemeint.«

River strich sich seine dunklen Haare aus der Stirn, die ebenfalls in alle Richtungen peitschten. »Muss ich dir jetzt die Haare zusammenbinden, damit du aufhörst rumzumeckern?«

Ich nickte. »Na klar. Dummerweise habe ich kein Haargummi dabei«, sagte ich und deutete auf meine nackten Handgelenke, auf denen normalerweise eine ganze Auswahl prangte, damit ich auch schön eins aussuchen konnte, das zu meinem Outfit passte.

»Dreh dich einfach um«, seufzte River, der die Frage womöglich nicht einmal ernst gemeint hatte. Schweigend fasste er all meine Haare zusammen und kämmte sie danach so gut es ging mit seinen Fingern. Ich versuchte nicht unter seinen Berührungen zusammenzuzucken, aber es war beinahe unmöglich, denn seine Fingerkuppen strichen immer wieder sanft, dennoch unabsichtlich über meine Haut. Es machte mich nervös und hibbelig, und ich hatte plötzlich Mühe, ruhig dazustehen, obwohl es sich gut anfühlte. River drehte meine Haare und es dauerte nicht lange, bis er sie zu einem Dutt geformt hatte – und das ganz ohne Haargummi. Ungläubig drehte ich mich zu ihm um, nur damit ich sein selbstgefälliges Grinsen erblicken konnte.

»Danke!«, meinte ich konnte mein breites Lächeln dabei kaum verstecken. Rivers Mundwinkel zuckten ebenfalls und er neigte den Kopf leicht.

»Sehr gern geschehen, werte Prinzessin. Kann ich Ihnen vielleicht noch einen weiteren Dienst anbieten?«, fragte er in einem spielerischen Ton und hielt sich dabei die Brust. Erst dadurch merkte ich, wie nahe wir uns plötzlich waren. Kaum ein Schritt trennte uns noch und ich neigte den Kopf ein bisschen stärker als sonst, um seine vom Mondlicht erhellten Augen zu erblicken. River war ein gutes Stück grösser als ich, aber trotzdem fiel es mir heute zum ersten Mal wirklich auf.

»Ja, zum Beispiel könntest du mir sagen, wie du das gelernt hast.«

River schnaubte und mit einem Wimperschlag war jegliche spielerische Art aus seinen Gesichtszügen gewichen. »Oh, diese Geschichte ist auch nicht so schön. Ich habe es nämlich gelernt, indem ich versucht habe, Moms Haare von ihrem eigenen Erbrochenen fernzuhalten. Bei ihr ist es allerdings einfacher, weil sie längere Haare hat als du.« Mein Herz zog sich ein wenig zusammen, denn je mehr River von sich erzählte, desto mehr packte mich Trauer um seine Situation. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie hart das alles für ihn war. Und noch schlimmer wurde es dadurch, dass er das alles allein durchmachen musste. Ich glaubte nicht, dass River mit anderen Menschen darüber sprach, vor allem nicht mit Bash. Er schien sich ständig um die Angelegenheiten seines Bruders zu kümmern, aber ich sah nicht wirklich, dass er etwas davon zurückbekam. »Sieh mich nicht so an, Dar«, flüsterte er mir rauer Stimme und schluckte dabei tief.

Kiss Me On PaperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt