Ein paar Jahrzehnte später.
Asran prüfte, ob sein Bogen richtig saß. Nichts wäre peinlicher, als vor seinem Lehrmeister und Stiefvater zu zeigen, dass er seine Waffen nicht zu ordnen wusste. Moserim war ein herzensguter Mensch, aber dennoch war er streng und schnell wütend. Asran warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Seine braunen Augen warfen ihm einen schelmischen Blick zu. Der Duft von Wildblumen erfüllte die Luft, er war so stark, dass er sogar benommen machte. Als zukünftiger Krieger musste Asran auf alles achten, was sich in seiner Umgebung abspielte. Alles könnte von entscheidendem Nutzen sein. Asran könnte den schweren Geruch der blühenden Blumen als Waffe benutzen, oder er wurde ihm zum Verhängnis.
Asran prüfte nochmals sein Schwert und seinen Bogen, dann öffnete er die Luke, die in dem Holzboden eingelassen war. Knarzend öffnete sie sich. Asran atmete tief durch. Heute war seine letzte Fechtstunde vor der morgigen Prüfung. Wenn er sie bestehen würde, würde er zwei Drittel seiner hundertjährigen Ausbildung zum Krieger erfolgreich abgeschlossen haben. Die eisernen Haken, die als Stufen dienten, gaben Asran sicheren Halt. Er könnte auch mit geschlossenen Augen den Weg nach unten finden. Seine Linke suchte den schweren, metallenen Griff der Luke und zog sie wieder zurück in die dafür vorhergesehene Einlassung. Asran sprang die letzten Stufen herab. Er würde nicht zu spät kommen.
Durch das dichte Blätterdach der Eiche, in deren Baumkrone das Haus von Asran eingelassen war, fielen warme Sonnenstrahlen auf den Elfen. Asran reckte sein Gesicht in den Himmel. Es war ein Tag, wie aus einem Märchen. Nur vereinzelte Wolken trieben über den Himmel, tausende Sonnenstrahlen durchbrachen das dichte Blätterdach des Moraldwaldes, dem Elfenwald, in dem Asran zur Welt gekommen war. Nur wenige Schritt entfernt stand das Zuhause seines Lehrmeisters. Eine Arkade hatte ihre Äste dicht um das Elfenhaus hoch oben in dem riesigen Baum geschlungen. Die Arkade mochte über tausend Jahre alt sein.
Vor dem Stamm des mächtigen Baumes stand Moserim. Er wirkte geordnet und kühl, so wie immer, wenn das Training begann. Asrans Lehrer hatte sich in ein silbernes Gewand gekleidet, das von seinem Stand sprach. Während Asran in ein wildgrünes Jagdkleid gehüllt war, das die Farbe der Lehrenden war, war Silber die Farbe eines Elitekriegers. Die einfachen Kämpfer des Königs Laurentius, der den Moraldwald und Lauresmanien, die Adelsstadt in dem Moraldwald, beherrschte, trugen Kleider in den Farben des Waldes. Vom schlammigen Braun bis hin zu dem dunklen Grün. Auch Rot war dabei, sowie Gelb. Denn auch diese Farben waren im Wald zu sehen. Im Herbst. Wenn die Blätter der Bäume jede Farbe nachahmten. Ein Krieger in solchen Gewändern war für ein normales Auge unsichtbar.
Neben Moserim stand eine zweite Gestalt. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Griff ihres Schwertes, das an ihre linke Hüfte geschnallt war. Asran brauchte nicht genau hinzuschauen, um zu wissen, wer das war. Er blieb etwa einen Schritt vor den beiden stehen. Zuerst wandte er sich an Moserim und nickte. Sein Lehrer erwiderte den knappen Gruß und deutete auf die Gestalt neben ihm. Asran drehte sich zu Lasyn, jener Elfendame, die er liebte. Er deutete eine Verbeugung an. „Was für eine Ehre, Euch hier anzutreffen, Lasyn", sagte er und lächelte sie an. Sie erwiderte sein Lächeln grinsend, doch Moserim unterbrach die beiden: „Dunkle Sonnen gehen auf, sie sind von dem Blut befleckt, das in den nächsten Monden fließen wird. Du musst hier verschwinden, Asran! Du verstehst es nicht und ich kann es dir auch nicht klar sagen, aber der Befehl von Laurentius war eindeutig! Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es hat etwas mit deinem Vater zu tun. Laurentius hat gesagt, ihr müsset zu Aznael gehen. Er ist ein alter Bekannter von mir und wird euch empfangen, doch sein Haus liegt etwa zwölf Wegstunden von hier entfernt. Brecht jetzt auf, jeder Augenblick, den ihr vergeudet, so hat Laurentius gesagt, wird euch weiter in Gefahr bringen!"
Asran musterte ihn forschend. War das vielleicht eine verborgene Prüfung? Wollte Moserim so herausfinden, ob er schon würdig war, morgen gegen ihn anzutreten? Doch Asran fand keinen Hinweis darauf. Moserims Gesicht war starr - wie eine Maske. Nichts konnte er in diesem Gesicht ablesen. Asran versuchte, sich seine Verwirrung und sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Er straffte die Schultern und reckte trotzig sein Kinn vor.
„Wo werden wir dann hingehen?", fragte Asran und sah Moserim durchdringend an. Moserim schüttelte langsam den Kopf: „Du hältst das für ein Spiel von mir, Asran. Nicht wahr? Du denkst, das alles sei eine Planung meinerseits. Aber ich schwöre dir, ich sage die Wahrheit. Lasyn wird dich begleiten. Dir darf nichts geschehen! Lasyn, wirst du ihn schützen?" Moserim wandte sich an Asrans Geliebte. Sie fiel auf die Knie und zog ihr Schwert. „Ich werde mein Leben für seines geben!", entgegnete sie sofort. Moserim nickte. Tränen glitzerten in seinen Augen. Sein maskenhaftes Gesicht war tiefen Gefühlen gewichen. Traurigkeit und Stolz spiegelten sich in seinen Zügen. Der Lehrende klopfte Asran auf die Schulter und sagte: „Ich bin so stolz auf dich, Asran. Jetzt gehe, gehe hinaus in die weite Welt, um den Befehlen deines Herrn zu gehorchen."
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Als sich die Sonne langsam dem Horizont näherte, schlugen sie eine Rast ein. Asran wusste nicht, was in ihm vorging. Stets kämpften Traurigkeit, Stolz, Wut und Liebe um Oberhand. Lasyn war verlockend. Das Gewand schmiegte sich an ihre schlanke Gestalt. Ihr schwarzes Haar fiel ihr lockig ins Gesicht. Die eisblauen Augen blitzten auf. Leichte Sommersprossen waren auf ihren sonnengebräunten Wangen. Auch ihre Arme waren von einem dunklen Hautton. Nur die hellen Narben störten die glatte Haut. Asran hatte jede einzelne Narbe erkundet. Von der langen auf Lasyns linkem Unterarm bis zu der kreisförmigen Narbe auf ihrer rechten Schulter. Lasyn ließ sich nieder und legte sich den Umhang ab.
„Wir flohen nicht, um dem Krieg zu entgehen. Wir gingen, um ihn heraufzubeschwören", sagte sie dann unvermittelt mit ihrer klaren, hellen Stimme. Asran schmerzte es, diese Stimme über Tod reden zu hören. „Wir gehen, weil die Welt in Begriff ist, unterzugehen. Es ist so weit gekommen, dass der dunkle Herrscher das vierte Amulett in Obhut genommen hat. Einzig unser Amulett besitzt er noch nicht. Mich hat man mit der Aufgabe betraut, dich zu der Hütte Aznaels zu begleiten. Ich will nicht, dass du stirbst. Ich werde nicht ewig bei dir bleiben, Asran. Ich liebe dich! Und genau deswegen muss ich dich gehen lassen. Du bist der Sohn von Asren! Das grüne Amulett wird bald dir gehören! Du wirst einen anderen Weg gehen müssen als ich. Vieles hat man dir verschwiegen. Es wäre zu gefährlich, dir es jetzt schon zu sagen", sagte sie schnell und leise und und senkte ihr Haupt.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...