~Die Nachhut~

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Asran schloss die Augen, als er den Wind in seinem Haar spürte. Ergon drehte scharf vor einer alten Eiche ab, legte die Flügel an und ließ sich herabfallen. Kurz über dem Boden breitete er seine mächtigen Schwingen wieder aus und glitt wenige Schritt über der Erde. „Da hinten", rief Asran und deutete auf die schwarzen Schemen am Horizont. Sie kamen aus dem Westen, ihre Gestalten zeichneten sich deutlich vor der untergehenden Sonne ab, während Asran und Ergon verborgen im Schatten waren. Asran wusste, dass er das, was er sagen wollte, auch einfach denken konnte und Ergon würde es dann auch verstehen, aber er hatte sich noch immer nicht an die stumme Sprache gewöhnen können. Es auszusprechen war bei weitem unkomplizierter und zufriedenstellender. „Sie kommen schnell auf uns zu. Sie müssen Reittiere besitzen. Ich denke, wir sollten umkehren", sagte Ergon und Asran stimmte ihm zu. 

Als sie wieder bei den Zwergen gelandet waren, ging Asran ohne große Umwege in die Halle der Räte. An einer langen Tafel saßen Grimbold, Drignum, Vazyllanne, Nincoril, Aznael, Athavar, Aristeas, Thorwin und Navèst. Ein weiterer Platz für Asran war freigehalten worden. „Und, was habt ihr gesehen?", fragte Grimbold. Er stand auf und stützte sich schwer mit den Händen auf dem Tisch ab. Eine riesige Landkarte war darauf ausgebreitet. Asran deutete auf jenen kleinen Wald, über den er geflogen war und schätzte ab, wie weit die Gracker von dort noch entfernt waren. Dann tippte er auf die mögliche Stelle. „Hier müssten die Gracker jetzt sein. Sie reiten auf irgendwelchen Tieren und rücken schneller an, als wir es gedacht hatten. Ihre Streitmacht zählt fünfzehntausend und mehr. Es ist unmöglich, sie hier zu bekämpfen. Es gibt zu viele schwache Stellen. Wir müssen die Schlacht woanders austragen!", sagte der Elf bestimmt. 

Grimbold zog die Augenbrauen zusammen. „Warum sollten wir nicht hier kämpfen? Die Festung der Zwerge ist stärker, als ein jeder von euch denkt. Es gibt unzählige Fallen, die man...", sagte er, doch Asran unterbrach ihn: „Es ist schon möglich, dass dein Königreich gut geschützt ist, aber müssen wir bedenken, dass eine Armee von tausenden hier einmarschiert. Und, nichts gegen euch Menschen, aber wenn sie die eine Seite nicht halten können, und die Gracker in den Thronsaal einnehmen, dann haben wir verloren!" Grimbold erwiderte nichts. Auch Thorwin bleib erstaunlich ruhig. Seit dem Vorfall in Mussling hatte er kaum gesprochen, Essen tat er nur selten und seine frühere gute Laune war wie weggeblasen.

Stattdessen traf man ihn immer öfter mit einem Kelch voll Met an, wenn er Alkohol trank dann lachte er wieder, dann tanzte er und war der Alte. Ohne all das aber war er nichts weiter mehr als ein kümmerliches Häufchen Elend. 

Vazyllanne erhob sich und zeigte auf ihre Elfenburg. Der Wald Dauliniens war auf der Karte als unerkennbare Masse eingezeichnet, die Festung in ihr grob skizziert. „Wir könnten nach Daulinien reisen. Wir müssten zwar den Vochra hoch und somit gegen die Strömung, aber der Fluss ist so breit, dass die Gracker einen Umweg machen müssen, wenn sie uns folgen wollen. Sie müssen entweder über die östliche Seite, doch ist diese so gut wie Neuland, oder aber über die westliche Seite, und da ist das Faghri-Gebirge. Vielleicht sichern wir uns so einen Vorsprung", sagte sie mit ihrer lieblichen Stimme. 

Athavar nickte: „Man erzählt sich unter uns Menschen, dass deine Festung mehrere Jahrzehnte halten könnte. Die Vorräte sollen zwar widerwärtig aber in Massen vorhanden sein." Vazyllanne nickte, ein Lächeln spielte um ihre Lippen. „Die Burg von Daulinien ist eine stark bewaffnete, beinahe uneinnehmbare Festung. Und dennoch sollten wir kämpfen! Irgendwann wird selbst die dickste Mauer brechen!", antwortete sie. „Ich denke, es ist richtig, nach Daulinien zu ziehen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, die Gracker kommen schnell. Zu schnell!", sagte Asran und suchte Aristeas' Blick. Der Zauberer schien in sich gekehrt und bemerkte erst nach einer Weile den unruhigen Blick Asrans. Er schien zu überlegen, dann nickte der Zauberer. „Ich stimme auch für den Plan von dir, Vazyllanne. Die Zwergenfestung mag stark sein, aber für die Menschen und Elfen bleibt sie ein Rätsel", sagte er dann.

Nincoril erhob sich und schritt langsam um den Tisch. Sein Gesicht wirkte erstarrt. „Ich habe schon in vielen Schlachten gekämpft und ich denke, ich habe genug Erfahrung, um hier etwas in die Runde werfen zu können. Ich stimme dem Plan zu, doch was sollen die Gracker von uns halten, wenn wir einfach weglaufen wie kleine Kinder?", fragte er und Asran mahlte mit den Zähnen. Während Grimbold verächtlich den Blick abwandte, schien Athavar etwas entsetzt zu sein. Anscheinend hatte nur Nincoril diesen Punkt entdeckt. „Wir sollten einen Teil unseres Heeres zurücklassen, sie müssen kämpfen, um uns den Vorsprung zu sichern. Wir müssen pünktlich in Daulinien sein, um all die Geschütze und Fallen vorzubereiten. Die Gracker reiten auf Grizzlybären, sie sind schnell und gefährlich. Selbst wenn sie den Weg über das Faghri-Gebirge nehmen wollen, würden sie vor uns angekommen sein", fuhr der Blaue fort.

„Wenn das der Plan ist, den ihr alle gut findet, so bleibe ich hier bei den Höhlen von Taugrum! Ich will nicht jener König sein, der vor einer Schlacht und dem Tod davongelaufen ist!", sagte Grimbold bestimmt und haute mit der geballten Hand auf den Tisch. Die Spielfiguren erzitterten bei dem Schlag und der schwarze, unförmige Kegel, der die Streitmacht der Gracker darstellen sollte, kippte nach hinten. Drignum erhob sich ebenfalls. „Ich werde an der Seite meines Königs sein. Ich werde mit ihm sterben! Und ich werde für ihn sterben!", sagte er. Asran trat an ihre Seite. Er sagte nichts, doch seine Handlung sagte alles. Er zog die wütenden Blicke von allen Anwesenden auf sich. „Das kannst du nicht tun!", zischte Aristeas, dieses Mal wirkte er hellwach. Asran schob trotzig seinen Unterkiefer vor. Athavar trat neben ihn und sah ihm ins Gesicht. Nie hatte der Elf den Menschenkönig so wütend gesehen. 

„Du verstehst es immer noch nicht! Lass die ehrenhaften Spielchen, Asran, und komm mit uns nach Daulinien! Wenn du stirbst, dann haben wir alle verloren!", zischte er. Plötzlich flackerten alle Lichter und der Blick aller Anwesenden wanderte zu Navèst. Mit ausgebreiteten Flügel stand sie plötzlich hinter Asran. Sie hatte beide Hände auf seine Schultern gelegt und das Haupt erhoben. „Lasst ihm seine Entscheidung frei. Er darf selbst handeln, frei wählen, was er tun möchte. Ich werde stets hinter ihm stehen und meine schützende Hand über ihn halten", sagte sie und lächelte Asran auffordernd zu. „Das könnt Ihr nicht tun!", sagte Athavar und sein Zornesblick wanderte zu ihr. „Und ob ich das tun kann", erwiderte sie, aber Athavar entgegnete: „Ihr Götter habt die Welt schon einmal zerstört, damals, als Irkandir gelebt hatte! Und ich werde nicht zulassen, dass du die Welt endgültig zerstörst, Navèst!"

Navèst sah durchdringend Aristeas an, als sie plötzlich zurückschnellte und Athavar das gezogene Schwert aus der Hand schlug. „Du magst mutig sein, Athavar, doch du bist nicht fähig genug, gegen eine Göttin das Schwert zu erheben", sagte sie und stellte sich wieder hinter Asran. „Was ist deine Entscheidung?", fragte sie und drückte seine Schulter. Asran zog sein Schwert. „Ich werde hierbleiben und die Nachhut bilden. Ich werde mit Ergon kämpfen und mit Grimbold den Vorsprung der anderen sichern!", sagte er dann fest.


Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt