~Navèst~

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„Nein!", schrie Asran verbittert, doch sein Vater blieb verschwunden. „Vater! Komm zurück, bitte!", der Elf fühlte sich wie ein kleines Kind. „Dein Vater wird nicht mehr wiederkehren. Er hat seinen Weg beendet. Nur seine Seele kann den Weg zurück zu dir finden", ertönte plötzlich eine tiefe Frauenstimme. Sie kam von überallher und schien die Luft vibrieren zu lassen. Mit einem Mal flackerten von überallher Lichter auf. Sie kamen aus Edelsteinen und leuchteten in den buntesten Farbtönen. Grün, blau, violett, rot, weiß, gelb. Es glomm in den Steinen, die den ganzen Raum umgaben, in dem Asran gelandet war. Kreisförmig, zentral in ihm stand eine Person. Die Lichter schienen sie anzustrahlen.

„Wer seid Ihr?", fragte Asran. Die Gestalt erschien ihm unfassbar mächtig. Sie hatte eine starke, magische Ausstrahlung. Er trat näher an sie heran. Es war eine Frau, den Rücken zu ihm gedreht. Weiße, riesige Engelsflügel ragten aus ihren Schulterblättern. Schwarzes Haar fiel ihr bis über die Schultern auf ihr Bordeauxrotes Jagdkleid. Messer und Dolche steckten in einem Waffengurt, der ihr quer über die Brust lief. Augenblicklich wich Asran zurück und griff erneut nach der Macht des grünen Amulettes. Als er aber die schweren Metallringe entdeckte, die um die dünnen Handgelenke der Frau lagen, umrundete er sie. 

Ihr hartes Gesicht sprach Geschichten. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen schienen unbeirrt in ihn zu sehen und seine Gedanken lesen zu können. Ihren Befehlen widersprach man nicht, so viel stand fest. „Du fragtest mich, wer ich sei. Und wenn ich dir nun die am wo möglichst passendste Antwort gebe, so wirst du damit nicht zufrieden sein", sagte sie. Asran musterte die Frau immer noch intensiv. Ihre Augen starrten ihn glanzlos und ohne Unterlass an.

„Ich möchte sie dennoch hören", antwortete der Elf. Ein kleines Schmunzeln lag auf ihren schwarzen Lippen, dann entgegnete sie: „Einst war meine Macht unermesslich. Die Erde war meine Geisel. Die Völker dieser Welt kamen aus meiner Hand. Ihr Elfen wart mein Vorstellungsvermögen." In Asrans Kopf arbeitete es. Mit so einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Das einzige Geschöpf, das mit dieser Aussage übereinstimmen könnte war ein Gott. ‚Unsinn!', schalte er sich: ‚Götter sind nur Lebewesen aus den Sagen der Menschen.' Und doch überkam ihn ein ungutes Gefühl. Diese Macht, die um die Frau flimmerte wie Hitze um Feuer. Sie war eindeutig gefährlich! 

„Damals, als auch dein Vater noch nicht geboren worden war, da war ich alles! Die Welt, auf der ihr Halt findet, die Luft, die euch den Atem schenkt, das Haus, das euch einen Wohnort bietet. Ich war die Böse, die Menschen tötet, die Gute, die verlorene Seelen zurückholt, die Unbeteiligte, die verdammt dazu war zu schweigen. Ich war Feldherrin und gewann unzählige Schlachten, ich war Beraterin des Königs und brachte ihn schließlich zum Verrat an sich selbst und ich war die Dienerin, die scheinheilig alles tat, was von ihr verlangt wurde", fuhr sie fort. Ihre Hände ballten sich und die Ketten, die sie an dem Platz hielten, an dem sie stand, strafften sich.  Sie tat einen Schritt auf Asran zu und schrie laut auf, als sich auch die Ketten um ihre Füße strafften. Ihre Gesicht glänzte, als hätte sie starkes Fieber.

Asran sah ihr direkt in die Augen. Ihre Nasenspitzen waren nur um Haaresbreite voneinander getrennt. „Du bist eine Göttin, nicht wahr? Du bist Navèst, die ihre eigenen Geschwister verriet, um zu überleben, richtig? Du bist die Verfluchte, die gefangen in ihren eigenen Ketten vergeht, habe ich Recht?", zischte er durch zusammengepresste Zähne. Navèsts Gesichtsausdruck veränderte sich. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen und ließen schwarze Bahnen zurück. „Diese Gerüchte sind nicht wahr", hauchte sie heiser. Sie wirkte plötzlich unfassbar verletzlich. „Wenn sie nicht wahr sind, so erzähle mir die Wahrheit!", sagte Asran bestimmt. „Nein!", schrie sie. „Der Tod meiner Geschwister und die Geschichte der Feuerschwänze geht dich nichts an! Ihr Elfen habt auch die Geschichte um Irkandir verdreht! Ich habe ihn gekannt! Er war kein Held, der den Elfenkönig stürzte! Er war ein Bastard, der zu Recht verurteilt worden war!"

Asran wich vor ihr zurück. Ihre Worte hatten ihn erschreckt. „Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, hier gefangen zu sein und dem Verfall meines Volkes zusehen zu müssen. Was jetzt aus den Elfen geworden ist, das hätte ich verhindern können. Ihr Geist ist nun verfault und ihre Herrscher dumm", sagte sie etwas ruhiger nun. Asran konnte es kaum glauben; er schenkte ihr sein Vertrauen. Etwas tief in ihm sträubte sich dagegen, aber sein Herz hatte Navèst bereits für sich gewonnen. Die Luft um ihn herum schien zu flimmern und Navèsts Worte von weither zu kommen, als sie sagte: „Fast alle Elfen schenken den Lügen Glauben. Aber ich weiß, dass du einer der wenigen bist, deren Geist noch nicht verdorben ist. Befreie mich, und du wirst eine zusätzliche Hilfe im Krieg gegen den dunklen Lord besitzen. Und wenn wir diese Schlacht gewonnen haben, so werden wir zwei, nur du und ich, die Welt säubern und die Ordnung neu aufstellen." Asran verbeugte sich, es war wie automatisch. „Ich diene Euch mit Herz und Seele, Herrin, und das wisst Ihr. Was habe ich zu tun?"

Asran wollte sich auf die Zuge beißen. Er war besessen, von ihr! Verdammte Göttin! Verdammte Magie! Navèst lachte. „So ist es gut, mein Kind. Diene mir, bringe mir den Stein der Erfüllung", sagte sie und fuhr dann fort: „Schließe deine Augen, mein Kind. Und dann lasse dich von mir führen, führen in einen Traum, der noch schwerer zu ertragen ist, als die Wirklichkeit." Asran gehorchte ihr. Er wusste, dass das womöglich ein Fehler war, aber er konnte nicht anders. Navèst hatte von ihm Besitz ergriffen, das Schicksal der Welt lag erneut in der Hand der Götter. Und wenn sie noch einmal verlieren würden, so gab es niemanden, der den Verfall der Welt noch aufhalten konnte.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt