„Da sind wir", sagte Athavar und lächelte müde. Er klopfte seiner Stute den Hals und stieg von ihr ab. Sahisson hatte ihnen Pferde zukommen lassen. Noch nie in seinen neunundzwanzig Jahren, in denen Athavar nun schon lebte, hatte er sich so über den Anblick Romaks, seiner Heimatstadt, gefreut. Er führte das Pferd zu einer mächtigen Eiche, wo er es festband, ihm aber genügend Leine zum Grasen gab. Die Gefährten folgten seinem Beispiel.
Es war früher Mittag, die Sonne stand fast im Zenit, und die Gefährten standen auf einem der vielen Hügel, die Romak umgaben. Von hier aus konnte man Romak noch nicht sehen, doch das Gebiet, auf dem sie standen, gehörte schon zu seiner Stadt. Für Asran, Durgrim und Thorwin würde Athavars Königreich wohl eine Überraschung sein. Die Menschenstadt war aus massivem Stein gehauen, doch wäre dies gar nicht nötig. Romak war eine Wasserstadt, die inmitten eines tiefen, großen Sees lag. Um den See waren kleine Hügel versammelt, auf denen die buntesten Blumen blühten. Doch wenn man Romak erreichen wollte, musste man dessen See durchqueren. „Todessee", ja, so wurde er genannt. Verborgene Strömungen hatten schon so manchen Seglern großes Unglück gebracht. Nicht sichtbare Felsen schrammten das Boot, wenn man keine Karte besaß, auf der die Tücken des Sees verzeichnet waren. Athavar besaß eine solche Karte, denn er war schließlich Romaks König.
Er hatte nur seinen Leibdienern und Obsukrin, seinem Thronhalter, diese Karten austeilen lassen. Auch hatte Athavar drei Fährmänner ausbilden lassen. Diese waren ausgezeichnete Krieger und Segler. Auch sie besaßen die Karten. Die Fährmänner waren dafür zuständig, dass jeder Besucher oder Händler sicher hinüber zu der Festung gebracht wurde. Sollte sich aber ein Spitzel eingeschlichen haben, und die Fährmänner ahnten dies, würden sie ihn außer Gefecht setzen können.
Romak hatte jedoch auch seine Nachteile. Händler kamen nur selten, sie scheuten den gefährlichen See. Das Land hier war zwar fruchtbar, aber es fehlten Romak viele Bauern. So würde Athavar nur wenige Hundert Krieger in die Schlacht um Mittelland führen können.
„Wir verweilen hier und warten, bis die Pferde wieder genug Kraft haben, uns zu tragen", sagte er. „Gibt es noch was zu essen?", knurrte Thorwin. Sein leuchtend rotes Haar war nass vor Schweiß. Athavar grinste und wandte sich wieder dem See zu. Hinter sich hörte er Aristeas antworten, dann Thorwin lautstark beschweren. „Ich bin doch kein Pferd!", grollte er, „Pferde essen Äpfel und Brot! Gibt es denn kein Fleisch? Fisch? ... das gibt's doch nicht, ich bin nicht auf Diät!"
Dinduriel trat zu Athavar und er zuckte zusammen. „Was verbirgt sich dort?", fragte der Elf und deutete auf die Nebelschleier, die den See verbargen. „Was verbirgt sich hinter den Nebelschwaden? Es muss ein Gewässer sein. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich das Geheimnis der mysteriösen Menschenstadt lüften werde", fuhr der Elf fort. „So?", fragte Thorwin, der sich unauffällig genähert hatte. „Ihr werdet erstaunt sein", sagte Athavar und ließ sich ins Gras fallen.
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Die Pferde wieherten unruhig und Asran flüsterte ihnen beruhigend zu. Athavar hatte darauf bestanden, sie mit an Bord zu nehmen. Als der Elf die Pferde besänftigt hatte, sah er zu Durgrim. All seine Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen. Als Athavar einen der drei Männer zu sich winkte, und dieser sie auf ein flaches Boot mit wenig Tiefgang führte, wurden die Gelenke von Durgrims geballter Faust weiß.
Schon nach wenigen Augenblicken beugte sich der Zwerg über die Reling und Asran vernahm einen gurgelnden Laut. Sobald sich der Zwerg umgedreht hatte, war sein Gesicht grün gefärbt. „Ich glaube, ich vertrage kein Segeln", sagte er und erbrach erneut in das dunkle Wasser. „Das ist kein Segeln", sagte Athavar und trat zu ihnen. „Das ist Elfenwerk. Damals, als Romak errichtet wurde, kamen Elfen und woben Zauber in dieses Schiff. Es ist eines von drei, die verzaubert wurden. Der Zauber bewirkt, dass die Schiffe wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, entweder nach Romak segeln, oder aber zurück zum Ufer." „Wie lange ist das her?", fragte Asran. Davon hatte er noch nie gehört. „Ach", Athavar zuckte mit den Schultern. „Lange, noch bevor mein Vater..." Er stoppte, weil sich Durgrim wieder erbrach. „Wie lange noch?", jammerte der Zwerg und hustete. „Ein halber Tag etwa", antwortete Athavar knapp und wandte sich ab.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...