Aznael streckte sich und entzündete die Öllampe. Er hatte wunderbar geschlafen, was sich aber eigentlich widersprach. Der Elf hatte in einem der kerkerähnlichen Schlafräume der Zwerge geruht. Die Luft hier war stickig und die Wände bedrückend. Die Matratze war ausgeleiert, das Stroh hatte gepikst. Aber jetzt konnte Aznael endlich wieder aus dem Loch. Er stand auf und stieß sich den Kopf an der viel zu niedrigen Decke. Er fluchte und tastete nach seiner Stirn. Ein feines Blutrinnsal rann ihm die Schläfe herab. Er schüttelte den Kopf. Was war mit ihm los?
Vorsichtig tupfte er mit einem Tuch das Blut von seiner Stirn und blickte die Decke an. Er hatte sich natürlich genau dort gestoßen, wo der Stein etwas ungleichmäßig ausgearbeitet war. Ein etwa fingerlanger, steinerner Dorn ragte dort aus ihm heraus. Aznael ließ sich seine gute Laune nicht vermiesen. Fröhlich zog er sich an, war gespannt darauf, was der Tag ihm bringen würde. Etwas lag in der Luft. Das spürte er.
Vor dem Thronsaal des Zwergenkönigs wartete Aznael auf seine Gefährten. Als sie eingetroffen waren, traten sie gemeinsam in den Raum ein. Grimbold stand wieder vor der Steinhauerei an der hinteren Wand des Saals. In der Ecke wartete ein alter, unscheinbarer Zwerg mit grauem Haar und Bart und tiefschwarzen Augen. Er trug ein einfaches Lederhemd, doch an seinem Gürtel hing eine reichverzierte Axt. Grimbold drehte sich um und deutete auf den alten Zwerg.
„Das ist Drignum, ein Freund aus Kindertagen. Er ist mein Leibwächter", sagte er mit einem vieldeutigen Lächeln. „Und was heißt das genau?", fragte Aznael. Er legte ein spitzes Lächeln auf. Grimbold zog die Augenbrauen zusammen und erwiderte: „Das bedeutet, dass er mit dir reisen muss, Elf!" Durgrims Augen wurden groß. „Mein Herr, aber Ihr dürft doch nicht in eine Schlacht ziehen! Was sollen die Zwerge ohne Euch erreichen?", fragte er geschockt. Grimbold schmunzelte und entgegnete: „Für wen sollen die Zwerge mich halten, wenn ich sie in den Tod schicke, ohne selbst alles versucht zu haben?" Durgrim schwieg. Man sah dem Zwerg an, für wie schlecht er den Vorschlag Grimbolds hielt.
„Ich beriet mich in der Nacht mit Aristeas und wir wurden uns einig. Ihr werdet gemeinsam aufbrechen und euch dann aufteilen. Jeder von euch muss rechtzeitig in einer Stadt ankommen. Alle, bis auf Asran. Wenn er zu der Magie gefunden hat, wird er in das Jenseits finden müssen. Genau hier liegt ein Tor dahin", Grimbold stapfte auf den Boden. Aznael gefiel es nicht, dass ein Zwerg ihm sagte, was er zu tun habe, aber er nickte nur. Er selbst hatte keinen besseren Vorschlag. Asran aber sah gar nicht glücklich aus.
„Ich will nicht hierbleiben! Mein Zuhause ließ ich hinter mir und meine Gefährten sind zu meiner Familie geworden! Ich lasse sie nicht gehen, ohne zu wissen, dass sie nicht sterben werden!", protestierte er. „Dann wirst du deine Familie nun erneut loslassen, um dein Schicksal zu erfüllen. Du hast es schon einmal getan. Ein zweites Mal wird es auch nochmal gut gehen", erwiderte Grimbold kühl.
Asran blickte fassungslos zu dem Zwerg hinab. Seine hellen Augen funkelten. Aznael trat zu ihm und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, dann schob er ihn ein wenig weg von den anderen Gefährten. „Dir wird es gut gehen", sagte der Älteste leise. Asran sah ihn zweifelnd an. „Unter den Zwergen gibt es machtvolle Zauberer. Wenn deine Magie erwacht, dann werden sie dich unterrichten und du wirst ihnen ein guter Lehrling sein. Vertraue mir", fügte Aznael hinzu. Er musterte Asran. Der Elf straffte seine Schultern und hob sein Kinn. „Für meinen Sohn", sagte er dann mit belegter Stimme. Aznael nickte. „Für deinen Sohn."
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Am frühen Nachmittag war Aznael bereit, nach Daulinien aufzubrechen. Er lächelte spöttisch, als vor dem mächtigen Eingang in das Zwergenreich Ponys herbeigeführt wurden und sich Durgrim, Grimbold und Drignum damit abmühten, aufzusitzen. Auch Athavar, Aristeas und Thorwin saßen bereits im Sattel. Während der Zauberer nach Misiuslada, der Stadt der Zauberer, ritt, würde Athavar zum Moraldwald reisen. Grimbold und Drignum würden den Weg nach Romak, Thorwin und Durgrim den nach Mussling einschlagen.
Eine Weile lang herrschte vollkommene Ruhe. Keiner wusste so Recht, was er sagen solle. Auch Aznael drang kein einziges Wort über die Lippen. Was hätte er auch sagen sollen? Bis bald? Ich freue mich auf das Wiedersehen? Sein Lächeln wurde breiter. Wohl kaum. Er würde seine Zeit in Daulinien vollkommen genießen. Das einzige, was ihn störte, war, dass er mit zu den Zwergen gemusst hatte, statt einfach in Daulinien zu bleiben und dann mit einem Heer zu kommen.
„Ein Tag der Finsternis ist heute, meine Freunde. Aber ich versichere euch: Wenn wir in drei Monaten erneut gegenüber stehen, dann werden wir so stark sein, dass den Feinden das Blut stehen bleibt, wenn sie unsere Streitmacht zu sehen bekommen. Ich für meinen Teil freue mich auf den Tag, an dem ich euch wiedersehen werde", sagte Aristeas, packte seine Zügel fester und preschte davon. Aznael konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. „Mit dem, was der Zauberer zu euch sprach, ist alles gesagt worden. Auch ich sehne mich nach jenem Tag, an dem das Schicksal uns wieder zusammen kommen lässt", sagte diesmal Grimbold. Abschiedsworte wurden gesprochen, ein letztes Mal wurden vielsagende Blicke getauscht, dann verabschiedeten sich die Gefährten und begannen ihre eigene Reise, die später zur Legende werden würde und die Gefährten für ewig lebende Helden machte.
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Die Luft war kühl, der Himmel schwarz. Es war eine vollkommene Nacht, durch die Aznael ritt. Eine leichte Brise fuhr ihm durch sein langes Haar und ließ es im Mondschein hell funkeln. Der Mond war eine helle Kugel, inmitten der Sterne, die Aznael den Weg wiesen. Bald würde er in Daulinien ankommen. Er war schon durch unzählige Nächte geritten, eine schöner als die andere. Das Rauschen des Flusses Vochra begleitete den Hufschlag seines gescheckten Hengstes. Das Tier quälte sich, um ihn so schnell wie möglich zum Elfenwald zu tragen. Aznael tätschelte ihm den Hals. Es war ein gutes Tier.
Im Morgengrauen erreichte der Elf das Reich Vazyllannes. Hell strahlte die Sonne, ihr Fehlen in der Nacht glich sie so wieder aus. Stimmen wurden laut, in den Bäumen raschelte es. Aznael ließ die Zügel seines Rosses locker; es wusste, wohin er wollte. Vor der mächtigen Steinmauer stieg er ab, ließ sein Pferd stehen und trat an das geschlossene Tor. Ein Spion wurde geöffnet und ein Gesicht erschien. „Ich bin Aznael, ich suche Gehör der hohen Frau", sagte der Reisende. Der Spion wurde wieder geschlossen und das mächtige Tor geöffnet. Als Aznael hindurchtrat wurde er ohne eine Erklärung von einem jungen Elfen zu Vazyllannes Thronsaal geleitet.
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Vazyllanne trat hinter einer Marmorsäule hervor. Sie hatte gehört, wie jemand eingetreten war, nun war sie neugierig, wer wohl ihr Besucher sein mochte. „Ich grüße Euch, Herrscherin von Daulinien", sagte eine ihr bekannte Stimme. Vor den Flügeln ihres Saals kniete ein Elf mit langem, silbernem Haar. „Aznael?", fragte sie, als der Elf den Kopf hob. Tatsächlich, er war es. Augenblicklich schoss ihr Blut in den Kopf, ihre Wangen glühten und ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Aznael stand auf, ging auf sie zu und küsste sie auf beide Wangen.
„Was machst du hier?", keuchte sie. Sie hatte sich von dem Schreck noch immer nicht erholt. „Ich erflehe ein Heer. Ein Heer, das den dunklen Herrscher abschrecken könnte. Bitte Vazyllanne, wir teilen so viele Geheimnisse miteinander, erfülle mir diesen Wunsch", Aznael sah sie mit diesem Blick an, den sie so sehr an ihm mochte. Mit Scham erinnerte sie sich an eines ihrer Geheimnisse. Aznael und sie hatten sich geliebt. Sie waren ein Paar gewesen, wie in einem Märchen, hatten sich tausende Liebesschwüre geschworen und unzählige Liebesbeweise geschenkt. Sie waren zusammen perfekt gewesen, bis Vazyllanne die Last der Krone auf sich genommen hatte. Dann war Aznael zurück in den Moraldwald gezogen.
„Ich will nicht, dass meine Elfen sterben, nur weil sie dem Krieg der Amulette ausgesetzt sind!", fuhr sie ihn an. Sie hatte ihren Liebeskummer von damals nicht vergessen. „Es geht nicht mehr nur um die Elfen des Moraldwaldes, Vazyllanne! Es geht um die Welt, in der wir leben!", rief Aznael aufgebracht. Vazyllanne atmete stoßweise, ihr fehlten die Worte. Sie konnte sich nicht konzentrieren, ständig dachte sie an seine so weich aussehenden Lippen. „Vazyllanne, geht es dir gut?", fragte er und blickte sie aufmerksam an. Die Königin von Daulinien hatte sich schwer gegen eine Säule gestützt. „Ja", sagte sie mit mühsamem Lächeln: „Du bekommst ein Heer, Aznael. Aber nur, wenn wir beide nochmals in längst vergangene Zeiten entfliehen."
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...