~Die mit den Schatten prescht~

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Ein stechender Kopfschmerz holte Aristeas zurück in das Leben. Der Schmerz hatte sich hinter seiner gesamten Stirn eingenistet und hämmerte dort, als würde er sich einen Weg durch den Kopf bahnen. Weiße Nebelschwaden hatten sich in dem Kerker breitgemacht, leise wisperten sie. Aristeas versuchte sich zu konzentrieren. Was war geschehen? Wie konnte er noch leben? Die Silberschale musste doch seine Kraft geraubt haben, sofern sie...

‚Nicht daran denken', schalte er sich und fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. Etwas musste geschehen sein, dass er jetzt noch lebte. Das war der wichtigste und einzige Anhaltspunkt, den der Zauberer hatte. Gedankenverloren strich er über den Boden und zog seine Hand sofort wieder zurück, als er in etwas Nasses, Klebriges fasste. Da er im dunklen Zwielicht nichts erkennen konnte, führte er seine Hand zum Mund und leckte die Flüssigkeit ab. Blut! Wie konnte Blut hierher gelangen? Die Wunde an seiner Hand verriet es ihm und schlagartig erinnerte er sich wieder an den Zauber. War er doch geglückt? War das der Grund, dass er lebte?

Der Zauberer schloss die Augen und öffnete seine magische Sicht. Er erkannte die Aura von sich selbst und die der Silberschale. Strahlend weiß leuchteten sie in seinen Augen. Sie hatten die Form von Fischernetzen, die um jeden Gegenstand und um jede Person lagen. Die Aura der Silberschale hatte ihren Glanz verloren. Trüb pulsierte Licht wie Blut durch die Adern des Netzes. Aristeas' Aura hingegen leuchtete so hell wie damals, als die Welt noch ihre Ordnung hatte. Der Druide suchte den Raum nach seinem Zauberstab ab. Mit flackerndem Licht lag er etwa zwei Schritt von Aristeas entfernt. Genau in dem Moment, als Aristeas nach ihm griff, hörte er Schritte näher kommen. Laut hallten sie durch die gespenstische Stille des Turms von Misuislada.   

Aristeas' Körper verkrampfte sich. Er zitterte vor Wut, wenn er an Mosemsis' Verrat dachte. Wie konnte sein alter Freund ihn nur so hintergehen? Leise pfiff der Goldene ein Lied. Es war ein Lied der Elfen, es handelte um Ruhm und Glück. Als Mosemsis bei der vierzehnten Strophe ankam, öffnete Aristeas seinen Mund und sang zu der Melodie des Liedes. Ihm war plötzlich eine Idee gekommen, wie er fliehen könnte. Er wandelte während des Singens den Text um, sodass er zu einem melodischen Zauber wurde. Ein Zauber, der nur mit dem Tod enden konnte. 

Ein Schrei gellte durch die Gänge und das liebliche Lied der Elfen verstummte. Mosemsis wimmerte und Aristeas' Blicke rasten durch seine Kammer. Wie konnte er von hier fort? Seine Augen suchten das verriegelte Gittertor ab und plötzlich kam dem Zauberer in Geistesblitz auf. Wenn ein Zauberer starb oder verletzt wurde, so wurde seine Magie nicht unbedingt schwächer, aber sie konnte sich nicht ständig erneuern. Ihr Erschaffer war weg und somit auch ihre einzige Energiequelle. Würde er nur lange genug versuchen, würde er Mosemsis' Barriere spielend leicht überwinden können.

Es dauerte länger als erwartet, aber schließlich ließ sich die Tür mit ein bisschen Nachhilfe öffnen. Aristeas stürmte hinaus in den Gang und aus dem Keller, als er das noch immer anwährend Wimmern von Mosemsis vernahm.

Sein ehemaliger Freund lag zusammengerollt auf dem finsteren Steinboden. Nichts Äußerliches wies auf eine Wunde hin, aber Aristeas hatte einen inneren Kälteschauer erschaffen, der sich nun langsam in Mosemsis' Körper schlich und die Muskeln verlangsamen ließ. Einen ähnlichen Zauber wendeten auch die Morslorde an. Mosemsis selbst war so schwach, dass er Aristeas nicht mehr hindern konnte, zu fliehen. Also eilte der Zauberer auf die Tür zu - beinahe erwartete er schon, dass Mosemsis ihn aufhalten würde - und öffnete unsanft das Tor, das nach draußen in die Freiheit führte. 

Aristeas atmete erleichtert den kalten Wind ein, der ihm ins Gesicht blies, und rief innerlich nach seinem Pferd. Wiehernd erschien es in den dunklen Gassen der einst so fröhlichen Zaubererstadt. Aristeas lächelte. Jumia hatte ihn nicht im Stich gelassen.

„Die mit den Schatten prescht", sagte Aristeas, immer noch lächelnd. Wiehernd senkte Jumia den Kopf. Ihr graues Fell mit den schwarzen Punkten an Hals und Beinen sträubte sich. Aristeas streichelte ihr die Nüstern und genoss ihren warmen Atem. „Wir werden viel reiten müssen in nächster Zeit", sagte der Zauberer. Jumia blickte ihn fast herausfordernd mit ihren großen, schwarzen Augen an. Aristeas lachte. „Andere Pferde werden dafür Tage brauchen, aber ich bin mir sicher, du schaffst das in nur wenigen Stunden."

Jumia schüttelte ihre Mähne und stieg auf ihre Hinterbeine. Ihr Wiehern hallte laut in die Nacht hinaus. Aristeas wurde es warm ums Herz. Er würde es noch pünktlich schaffen. Er und Jumia.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt