Es war so still rings um ihn, gespenstisch still. War das der Tod? Fühlte er sich so an? Athavar verzog den Mund, als er sich erhob. Er erinnerte sich kaum mehr an das, was eben passiert war. Nur der harte Aufprall war ihm noch präsent, sonst hatte er beinahe alles vergessen. Seine Augen suchten seine Umgebung ab. Er hatte auf einer Wiese gelegen, so grün, als wäre es ein Gemälde. Große Tulpenmagnolien hatten ihre Äste hoch in den Himmel gestreckt, ihre Blüten strahlten in den schönsten Violetttönen. Athavar ging ein paar Schritte und strich mit einem Finger über eine der fliederfarbenen Knospen. Er fühlte sie, fühlte das Gras unter seinen nacktem Füßen. Also war er tatsächlich hier. Die Frage war nur: was war dieses ‚Hier'?
Er ging noch weiter, beugte sich hinab und ließ seine Hände durch das Gras streichen. Plötzlich begannen Geräusche auf ihn einzuströmen, Vogelgezwitscher, das Blöken eines Hirsches. Das Piepsen einer Maus. Sein Gehör war geschärft wie nie zuvor in seinem Leben und all die fremden Eindrücke verwirrten Athavar. Wo zur Hölle war er?! Er wollte nicht tot sein, nicht schon jetzt! Er wusste nicht mehr, was er erlebt hatte, wusste nicht, wodurch er gestorben war, aber er wusste, dass es verdammt nochmal wichtig war, zurückzukehren!
Er schrie laut auf und packte sich mit beiden Händen an den Kopf. Eben noch hatte er die Stille, die Freiheit genossen, jetzt verdammte er sie. Er wollte leben, zurückkehren, sich erinnern! Er wollte die vielen Eindrücke vom Jenseits nicht, presste seine Finger noch stärker auf die Ohren und fiel in die Knie. Er schrie, wusste, dass er gerade durchdrehte. Aber er wollte hier nicht bleiben! Er hatte noch so viel zu tun in der echten Welt, wusste dennoch nicht, was es war.
„Du brauchst dich nicht zu sträuben", unterbrach ihn plötzlich eine so melodische Frauenstimme, dass Athavar den Kopf hob. Trotz seinen Händen auf den Ohren hatte er die Stimme dennoch gehört. Der ehemalige Menschenkönig erhob sich langsam und blickte sich um. Hinter ihm stand eine Frau in einem weißen Kleid, die Haut so bleich, dass es schien, als wäre sie aus demselben Material wie ihr Kleid. Ein verlockendes Lächeln umspielte ihre Lippen, die Augen sprühten vor Freude.
Nein, das war keine Freude! Athavar erkannte ihr Schauspiel. Es war Gier, die in ihren Augen loderte. Aber warum?
„Wo bin ich hier?", knurrte er. Er hatte es satt, hier zu bleiben. Er war noch nie jemand Sesshaftes gewesen und er hatte auch nicht vor, es jetzt zu sein. Weitere Geisterfrauen tauchten neben dem beinahe mädchenhaften Gespenst auf.
„Man nennt uns die Weißen Frauen", sagte eine. Ihre Augen waren so weiß wie das Bettlaken eines Königs. „Wir sind die Schwestern der Morslorde, jedoch wurden wir nicht erschaffen. Uns gibt es schon seit es den Tod gibt. Die Morslorde hingegen wurden erst später dem Spiel von Kommen und Gehen hinzugefügt", fuhr eine andere Weiße Frau mit so süßer Stimme fort, als sei sie aus Honig.
Athavar ging einen Schritt zurück. „Wo bin ich?", wiederholte er, drohend. „Im Jenseits", antwortete eine der Geisterfrauen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, auch in ihren Augen spiegelte sich Gier. „So reines Fleisch, ganz und gar von Ehre und Heldenmut ergriffen...", schwärmte eine andere und streckte die Hand nach ihm aus. „Du bist im Jenseits. Hier findet jeder Frieden, ob Bauer oder König. Hier ist der Ort, wo man vergessen kann. Du musst nur in den Fluss springen. Einmal im Wasser, findet deine Seele ewigen Frieden", fuhr eine ihrer Schwestern fort. Athavar sah ihr in die Augen. Silbrig wie der Mond schimmerten sie und anders als die ihrer Verwandten waren sie von Ehre und gutem Willen durchflutet. Sie glaubte ihren Worten und Athavar glaubte ihr. Er verfiel in den Bann ihrer silbernen Augen und folgte ihr, als sie mit ihren eiskalten Händen seine Finger ergriff und ihn zu einem Fluss führte.
Langsam glitten ihre Finger über sein Lederwams und öffneten die Verschnürungen. Athavar stand steif da, etwas in seinem Inneren portestierte gegen sein Tun, aber er verdrängte es, ließ zu, dass die Weiße Frau seine Hose öffnete und ihm die Stiefel auszog. Eine Weile lang strichen ihre Hände über seine nackte Haut und er schloss die Augen. „Bist du dir sicher?", fragte sie und Athavar stöhnte. Plötzlich sehnte er sich nach ihr, nach dieser Frau, die er nicht einmal kannte und doch so verfallen war. Ihre bloße Gegenwart ließ ihn sich selbst vergessen. Er wollte zu ihr, wollte ins Wasser springen, um bei ihr zu sein.
Er nickte und genoss eine Weile ihr Hände, dann wandte er sich um, dem Fluss zu. Er spürte alle Augen der Weißen Frauen auf sich, als er entblößt vor ihnen stand, bereit, jeden Moment in den Fluss zu springen. Er atmete tief durch und wollte gerade springen, als eine schallende, befehlende Stimme die Stille unterbrach: „Athavar!"
Er zuckte zusammen und wurde augenblicklich aus dem Bann gerissen. Er kannte diese Stimme, zu lange hatte er sie nicht mehr gehört. „Vater?", er drehte sich um. Ancratis stürmte zwischen den Weißen Frauen auf ihn zu, stieß sie rücksichtslos beiseite und schloss ihn fest in die Arme. „Athavar", murmelte der alte König von Romak und drückte ihn fest an sich. Athavar schluckte. Tränen begannen seine Sicht zu verschleiern. Er hatte nicht viele Jahre mit seinem Vater gehabt, sollte er jetzt springen, um endlich wieder bei ihm zu sein?
„Berühre dieses Wasser nicht!", flüsterte Ancratis mit tränenerstickter Stimme, so, als hätte er Athavars Gedanken erraten. „Warum nicht?", erwiderte er und sah seinen Vater an. Das schmale, ausgezehrte Gesicht, die lebhaften Augen, die von Trauer durchzogen waren.
„Von den Weißen Frauen gibt es für jeden sterbenden Körper eine, die ihn zu verlocken mag. Die Männer und Frauen wollen springen, um mit dem Geisterweib ihr Leben zu verbringen. Dabei wollen sie dich nicht verführen, nur dazu bringen, zu springen. Athavar, Aristeas hatte einen Zauber über dich gesprochen, der es vermag, deinen Tod ein einziges Mal zu verhindern. Du musst die Schlacht weiterführen, nicht ohne Grund sprach Aristeas diesen Zauber über dich! Bitte, springe nicht! Deine Zeit ist noch nicht gekommen!"
Bei Ancratis' Worten kam die Erinnerung zurück wie die Flut. Tausende Bilder brachen auf Athavar nieder und es schien, als würde er unter ihrem Gewicht zu Boden sinken. Ancratis aber hielt ihn fest. Zu gerne hätte Athavar mehr Zeit mit seinem Vater gehabt, aber der ehemalige König hatte recht. Sterben konnte Athavar später immer noch, zurückkehren nie, wenn er jetzt sprang. Also begann er, sich anzuziehen und fragte seinen Vater: „Wie komme ich hier raus?"
Die Weißen Frauen begannen zu schreien, als sie bemerkten, was Athavar vorhatte. Sie stürmten von allen Seiten auf Vater und Sohn zu, wollten ihre kalten, vom Tod durchdrungene Hände nach ihnen ausstrecken, um sie am Gehen zu hindern. Ancratis schlug sie beiseite und Athavar nutzte die Chance, um dorthin zurückzukehren, wo er aufgewacht war.
Er legte sich hin und schloss die Augen, stellte sich vor, wie er, stürzend vom Rücken Nadińes, von einem Zwergen am Arm gepackt wurde. Wie sein Aufprall ausblieb und er überlebte. Bilder tanzten in seinem Kopf, die Schreie der Todesschwestern wurden leiser.
Als Athavar die Augen wieder öffnete, lag er auf einem großen Vorhof. Weiße Gebäude waren von Blut besudelt. Keine einzige, lebendige Seele war zu sehen, dafür aber lag neben ihm der große Kadaver einer weißen Drachin, deren Schuppen in allen Regenbogenfarben glänzten.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...