„Der Feind ist da!", schrie ein grauhaariger Zwerg. Sein Bart war in zwei Teile geschnitten und ragten wie Pfeile unter seinem geschlossenen Helmvisier hervor. Sein Haar wallte ihm bis auf die Schultern. „Beeilt euch, wir müssen aufbrechen!", schrie Aristeas und zog an den Zügeln seiner Stute. Vazyllanne ritt neben Nincoril, beide auf schneeweißen Elchen. Etwa ein Dutzend Wachen war unmittelbar neben ihnen, der Rest ihres Heeres weiter hinten aufgestellt. Neben ihr saßen Athavar, Obsukrin, Thorwin und Aznael in ihren Sätteln. Aznaels Pferd scheute und bäumte sich auf. Während die Menschen in der Menge untergingen, sah man die Zwerge in geordneten Reihen auf Ponys sitzen. Die meisten von ihnen folgten zu Fuß.
Nervös blickte der Elf zu der schwarzen Masse, die mit jedem Herzschlag weiter anrückte. Die Gracker hatten in den letzten Tagen eine lange Pause eingelegt, damit sie jetzt voller Kraft waren. Ein Schatten glitt in der Luft über die gegnerische Seite. „Ich bin gespannt, welche Tücken du für uns vorhergesehen hast, du Bestie namens der dunkle Lord!", sagte Asran voller Abscheu und verfolgte die dunklen Gestalten.
„Wir sehen uns in Daulinien!", schrie Aristeas und die Verbliebenden jubelten dem langen Trupp zu, als er langsam abzog. Es war ein beeindruckender Augenblick, als Zwerge, Menschen und Elfen nebeneinander her preschten, die Waffen gezückt, ihre Anführer vereint. Aber auch Trauer lag in dem Applaus. Alle Anwesenden wussten, dass jene, die zurückbleiben würden, sterben würden. Grimbold trat neben Asran und blickte ausdruckslos seinem Kriegervolk hinterher. Kein Gefühl ließ sich in seiner Miene lesen. Als das Hufgetrappel leiser geworden war, wandte sich der Zwergenkönig an all jene, die geblieben waren, um den anderen die Reise nach Daulinien zu erleichtern. Etwa fünfhundert Menschen, achthundert Zwerge und siebenhundert Elfen, jeweils aus Daulinien und dem Moraldwald. Also waren sie insgesamt zweitausendsiebenhundert. Sie waren nicht viele, ihr Plan schien aussichtslos. Grimbold begann, die Reihen der Versammelten abzuschreiten.
„Ihr Elfen aus dem Daulinien, versammelt euch in den vordersten Hallen! Haltet sie, solange ihr könnt! Kämpft besonders in den breiten Gängen, in den engen Tunneln liegen Bärenfallen und andere Tücken. Nägel auf Bretter geschlagen fahren aus den Wänden, wenn jemand das schwarze Pferdehaar berührt. Der Boden klafft auf, wenn ihr euer Gewicht auf den falschen Stein setzt. Dort könnt ihr eure Macht etwas eindämmen, die Gracker sind dumm! Die Elfen aus dem Moraldwald nehmen hinter euch Platz. Benutzt eure Bögen! Nehmt Pfeile mit Eisen- oder Osmiumspitzen, nur sie können die Rüstungen durchschlagen! Sollten die Gracker zu schnell und zu zahlreich eindringen, so werden die Menschen in den inneren Hallen warten! Erwärmt Pech, notdürftige Trittbretter sind an den Höhlenwänden angebracht worden, damit ihr dort ordentlich kämpfen könnt. Wir Zwerge kämpfen ganz weit vorne, unsere Waffen sind gut!", sagte Grimbold laut. Ein Mensch mit schwarzem Haar trat vor.
„Auch wir Menschen können kämpfen!", zischte er leise. Grimbold sah ihn gelassen an. „Euer Leben ist kurz, Menschensohn. Wenn ihr so gut kämpfen wollt wie wir es tun, so müsst ihr schon länger als ein Jahrhundert leben", entgegnete er ebenso leise und hob dann wieder seine Stimme: „Fürchtet euch nicht vor der Größe der Biester! Sie sind zwar mindestens so groß wie wir, doch sind sie plump. Nutzt ihre Schwächen aus! Greift sie gleichzeitig und von mehreren Seiten an! Dann haben wir schon gewonnen!" Zustimmendes Gemurmel erklang. Grimbold ballte seine Hand und schlug sich auf seine Brust, dorthin, wo sein Herz schlug. „Ein Banner, ein Heer!", schrie er und sofort wurde sein Schlachtruf aufgenommen. Begeisterung zeigte sich in den Gesichtern der Krieger, die Furcht vor dem Tod schwand.
Grimbold trat an Asran. „Ein breites Loch ist in den letzten Monden in der mittleren Halle gebuddelt worden. Wenn die Höhlen von Taugrum fallen, so wirst du mit Ergon durch eben dieses Loch fliehen können", raunte er und lächelte in hoffnungsloser Zuversicht.
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„...Anlegen!", rief die monotone Stimme des Feldherren, der die Bogenschützen aus Daulinien befahl. Sämtliche Pfeile wurden auf die Bogensehnen gelegt, die Bögen selbst gespannt. Der Elf wartete noch ein paar Augenblicke, dann rief er: „Feuer!", und sämtliche Pfeile schnellten von den Sehnen. Sie fanden ihre Ziele in den grobschlächtigen Leibern der Gracker. Ein paar von ihnen fielen, doch der Rest preschte weiter auf die eiserne Mauer der Elfen aus Daulinien. Schwerter trafen auf Schwerter, Eisen schrammte über Eisen. Schreie wurden laut, Blut floss. Die Gracker waren zu gut, zu schnell. Viel zu schnell! Sie würden die Zwergenhallen zu früh einnehmen, es waren einfach zu viele! Man konnte diese Kreaturen nicht aufhalten! Es waren zwanzigtausend, die gekommen waren. Überall wurden Elfen benötigt, die verwundete Krieger heilten. Und in der Nähe dieser Elfen musste Asran sein. Sie konnten nur zaubern, weil er das Amulett hatte. Wenn das grüne Amulett wieder in falsche Hände geriet, so zerriss das grüne Magiefeld und die begabtesten Zauberer verloren ihre Gabe. Das grüne Amulett war wie ein Teil von Asran. Jedes Mal, wenn auch nur der kleinste Zauber gewoben wurde, spürte Asran es deutlich. Das Amulett gehörte zu ihm. Er gehörte zu dem Amulett.
Asran kämpfte an der Seite von Ergon, Grorphil, Grimbold und einer Handvoll Zwerge in der Halle der Magie, in der das Tor zu Navèsts Welt lag. Auch die Göttin selbst war anwesend und half ihnen mit Klinge und Speer. Blutspritzer waren auf ihrem ebenmäßigen Gesicht. Asran unterlief einen Stich, der auf seinen Hals gezielt war, ließ die gegnerische Klinge an seiner abstreifen und drehte sich. Aus seinem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, sprang hoch und wich der Klinge eines zweiten Grackers aus. Nun griffen beide Missgeburten Asran an. Ein Gracker von vorne, einer von hinten. Asran wartete bis beide Gracker bedrohlich nahe gekommen waren und als sie zustechen wollten, tat er einen Schritt zur Seite. Statt ihn zu treffen, rammten sich nun die Gracker gegenseitig die Klingen in den Bauch.
Asran sprang über die beiden hinweg und schlug einen Pfeil aus seiner Flugbahn. Langsam wurde sein Atem keuchend. Er kämpfte nun schon seit knapp einer halben Stunde, sein Körper ermüdete. „Achtung, hinter dir!", schrie Grimbold und Asran wirbelte herum, gerade noch rechtzeitig, um einen Hieb zu parieren. Wütend streckte er den Angreifer nieder. Die Gracker hielten respektvollen Abstand. Sie waren wie eine Schlange, die sich zurückzog und im passenden Moment zubiss. Lange Speere sirrten um Asrans Kopf. Er maß ihre Flugbahnen ab und sprang mal über sie, mal rollte er sich unter ihnen ab und ein anderes mal schlug er sie hinfort. Immer mehr Elfen, Menschen und Zwerge kamen zu ihnen. Sie wurden zu schnell zurückgedrängt! Grimbold warf seine Axt. Auf Asran? Asran sah ihn erschrocken an, realisierte dann aber, dass der Zwerg ihm das Leben gerettet hatte. Der Gracker hinter ihm hätte ihn getötet.
Asran schalte sich stumm. Er musste aufmerksamer sein! Heißes Pech und ätzende Öle ergossen sich auf dem Boden. Es zischte. Asran hielt die Luft an. Es war stickig. Und es stank. Ergon spie riesige Flammen. Sein Schwanz peitschte umher wie eine Keule. Asran ließ sich in die Menge zurückfallen und packte sein Amulett. Es lag wie ein Ziegelstein um seinen Hals. Es war fast ausgelaugt. Die Elfen hatten zu viele Heilzauber gewoben! Asran stellte sich eine große Schlingpflanze vor. Er stellte sich vor, wie sie den Boden entzweibrach und sich um die Füße der Gracker legte. Wie sich spitze Dornen in die hässlichen Gestalten gruben und wie sie langsam emporgehoben wurden. Ein Knacken erklang, es geschah! Es geschah das, was Asran sich vorgestellt hatte. Der Blick des Elfen wanderte zu Grorphil und dieser erwiderte ihn voller Stolz. Asran hatte die Magie begriffen!
„Wir können hier nicht ewig bleiben! Die Höhlen von Taugrum sind verloren! Sieh es ein! Die Gracker haben die Halle so gut wie eingenommen, wir müssen fliehen!", schrie Ergon. Asran ließ seinen Blick über die Kämpfenden gleiten. Sein Drache hatte Recht! Auch Navèst warf Asran vielsagenden Blicke zu. Ihre Stimme ging im Schlachtenlärm unter, doch sie deutete auf Asran, dann auf Ergon und schließlich auf sich, Grimbold und Grorphil. Asran verstand. Er blickte hinauf zu dem Loch. Erste Sonnenstrahlen fielen durch die Öffnung der Berge in die Halle der Magie. Der Elf sprang auf des Drachen Rücken und nahm die langen, ledernen Zügel in die Hand. Mit der anderen hielt er noch immer sein Schwert. Navèst nahm Grorphil, klemmte ihn sich unter den Arm und setzte ihn auf Ergons Rücken. Erst allmählich begriffen die Gracker, was sie vorhatten. Aufgeregt deuteten sie auf den Drachen, immer mehr Kämpfe stoppten. Pfeile durchschlugen Ergons Flügel und ließen klaffende Löcher zurück.
„Grimbold!", schrie Asran und sah den Zwergenkönig entsetzt an. Er versuchte nicht, den Drachen zu erreichen. Er blieb einfach da, wo er war. „Grimbold komm!", schrie Asran nochmal. Grimbold schüttelte den Kopf. Er trat so nah es ging an Ergon und sagte dann zu Asran herauf: „Mir war es bestimmt, in den Höhlen von Taugrum zu sterben. Sag der verdammten Elfenkönigin, dass sie ihre scheiß Festung alleine verteidigen und sich meine persönliche Hilfe in ihren verdammten weichen Arsch schieben kann!"
Asran schüttelte den Kopf. „Komm mit uns! Du musst nicht sterben!", rief er. „Asran", sagte Ergon warnend und warf angstvolle Blicke auf die immer größer werdende Menge der Gracker vor ihnen. Grimbold bewegte sich nicht. „Lass mich in Frieden gehen! Grorphil und du, ihr müsst überleben! Erledige deinen Auftrag, Asran, und dann erinnere dich im Guten an mich!", sagte er. Ergon hob ab. Asran spürte das Reißen seiner Flügel, die Pfeile, die das Leder durchbohrten, nur allzu gut. Kaum dass sie in der Lüfte waren, stieß Navèst auf sie.
Asran konnte es nicht fassen. Warum versuchte Grimbold nicht einfach mit ihnen zu fliehen? Der Zwergenkönig hatte ihnen den Rücken zugewandt. Sein Körper zuckte, dann sackte er nach vorne. Asran schrie seine Wut aus sich heraus und warf sein Schwert nach einem Gracker. Vibrierend blieb es in seinem Schädel stecken. Warum? An etwas anderes konnte der Elf nicht mehr denken.
Mit Grimbolds Tod war die jahrhundertelange Königssippe der Zwerge beendet. Stattdessen würde er, ein Elf sie weiterführen, als Beweis dafür die kleine Axt von Durgrim.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...