~Am Morsweg~

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Platzregen fiel auf sie nieder, als würde er sie verspotten. Donner grollten in der Ferne, Blitze erhellten die Nacht. Unwirklich hell schienen die Sterne. Das Bild des stehenden Pferdes war weit im Westen. Asran blickte zu all jenen, die ihn begleiteten. Aristeas, der Athavar fest an sich gedrückt hielt. Durgrim, der auf seinem Pony hin und her schwankte. Dinduriel, der erhaben wirkte wie ein König. Und Thorwin, dessen Haar der einzige Farbklecks im alles durchdringenden Schwarz der Nacht war. Die Menschen aus Romak begleiteten sie. Es hatten nur dreihundertvierzig Männer überlebt. Es hatte nur dreihundertvierzig Pferde gegeben, dreihundertvierzig hatten die Chance gehabt, vielleicht doch zu überleben. Mit diesen Menschen ritten die Gefährten zurück nach Romak. Stille herrschte unter den Kriegern. 

Kurz vor Morgengrauen schlugen sie eine Rast ein. Asran trat zu Aristeas. Der Zauberer saß an dem Totenlager von Athavar. Der Menschenkönig sah aber gar nicht tot aus. Sein Gesicht war zwar eingefallen, aber seine Haut war noch nicht verblichen. „Die Menschen wollen Abschied von ihrem König nehmen. Sie wollen es hinter sich bringen", sagte Asran mit belegter Stimme. Aristeas reagierte nicht. Er hatte die Augen geschlossen und die Hände fest auf Athavars Brust gedrückt. Etwas lag in der Luft. Anspannung.

Schauer liefen über Asrans Rücken, alle seine Härchen stellten sich auf. Hier wurde Magie gewoben! Aristeas' Lippen formten Worte, die wie das Fauchen einer Schlange klangen. Es waren Worte, wie sie ein Elf oder ein Mensch nicht formen konnten. Worte wie Messerstiche. 

Mit einem Ruck riss Aristeas seine Hände von der Brust des Menschenkönigs und öffnete seine Augen. Gebannt sah der Zauberer auf Athavar. Und als wäre es ein Wunder hob sich die Brust des Toten. Athavar riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Husten schüttelte seinen Körper und Asran eilte neben ihn, um ihn zu stützen. „Athavar", hauchte der Elf beinahe liebevoll. Er umarmte ihn. Ein mächtiger Stein war Asran vom Herzen gefallen. 

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Athavar hatte sich überwinden müssen, nicht in Romak zu bleiben. Gerade in solchen Zeiten musste der König bei seinem Volk sein. Aber Aristeas hatte Recht gehabt: Er musste weiterziehen. Mit Asran, Durgrim, Dinduriel und Thorwin. 

Athavar war fest entschlossen, all sein Vertrauen in Aristeas zu stecken. Der Zauberer hatte ihn aus dem Tod zurückgeholt, jeder Herzschlag, den Athavar jetzt spürte, war ein Geschenk. Der Moment des Sterbens war kalt gewesen. Er wurde von den Lebenden ausgegrenzt. Und dann hatte er geschlafen. So tief wie noch nie. 

Ein flaues Gefühl nistete sich in Athavars Bauch ein. Etwas stimmte hier nicht. Diese gottverlassene Gegend hatte etwas Bedrückendes an sich. Abgestorbene Bäume mit schwarzen, verkohlten Stämmen standen inmitten der Steinwüste. Dunkle Schiefernsteine überlappten sich und boten so kleinen Pflanzen einen Lebensraum. Dunkle Wolken hingen am Himmel. Kein Sonnenstrahl war stark genug, um sie zu durchdringen. Große Felsbrocken saßen wie Spielfiguren auf einem unübersichtlichen Schachfeld. 

Kalter Wind fuhr durch Athavars Haar. Er schnitt ihm wie ein Messer ins Gesicht. Sein Atem stand ihm in Wölkchen vor dem Mund. Aristeas zügelte seinen Hengst. Er deutete den Gefährten an, dass sie auf ihn warten sollten. Athavar nickte und Aristeas entfernte sich von ihnen. Seine Gestalt verschwand etwa vier Schritt entfernt in einem dichten Nebel. Die Schwaden wurden immer undurchsichtiger. Sie bewegten sich, als hätten sie einen eigenen Geist, mit dem sie denken könnten. Sie bewegten sich, als würden sie leben.

Athavar hob die Hand vor die Augen. Er sah alles nur schemenhaft. Er war sich jetzt ganz sicher, dass etwas hier nicht stimmte. Das war nicht mehr die Welt, die er kannte. Hier war Magie  am Werk! Athavar griff nach seinem Schwert. Es war ein Zweihänder aus alten Zeiten. Quer über den Rücken trug Athavar ihn, damit das Schwert ihn am wenigsten störte. 

Leise fuhr die blanke Klinge aus der Scheide. Athavar sah zu Asran. Der Elf hielt ein kunstvoll geschmiedetes Rapier in der Hand. Dinduriel hatte sich im Sattel aufgestellt, das Leder seiner Schuhe war nicht mehr von dem Leder des Sattels zu unterscheiden. Thorwin hatte seinen Bogen gespannt und gleich drei Pfeile auf die Sehne gelegt. Nur Durgrim war abgestiegen. Er hielt seine Axt beidhändig und den Blick starr nach vorne. Athavar lockerte seine Muskeln. Sie waren bereit für einen Kampf.

Als der Menschenkönig Stahl auf Stahl schlagen hörte, drückte er seine Beine in die Seiten seiner Stute und galoppierte los. Er sah fast gar nichts, so dicht war der Nebel. Immer kälter wurde ihm, seine Hände waren rot angelaufen. Seine Haut spannte sich und riss an einigen Stellen auf. Es mussten Minusgrade herrschen, Tau hatte sich in seinen Bart eingenistet. 

Endlich erkannte Athavar eine weißgewandete Gestalt. Eine silberne Klinge beschrieb einen schillernden Bogen. Athavar sprang von seinem Pferd, ohne zu warten bis es stehen blieb. Er trat nah an Aristeas und suchte mit seinen Augen die Umgebung ab. Kaum einen Schritt weit konnte er sehen. Asran traf auf sie, dann Thorwin und Dinduriel. Durgrim war verschwunden. „Zeigt euch!", befahl Aristeas, während sich Athavar nach dem Zwerg umsah. „Durgrim!", schrie er aus Leibeskräften, immer und immer wieder. 

Eine Gestalt löste sich aus dem Nebel. Sie war etwa so groß wie Athavar, doch war sie unwirklich. Ihre Haut war durchscheinend, das Gesicht weiß. Ein langer Umhang zerrte an den Schultern der Kreatur. Immer näher kam sie. Die Lippen spöttisch gehoben. Feine, schwarze Risse hatten sich in dem Gesicht des Fremden gebildet. Es schien, als würden sie jeden Moment weiter aufreißen, als wäre sein Gesicht ein Stein, der schon seit langer Zeit zerbröselte. Auf dem Haupt trug die Gestalt eine goldene Krone. Athavar wich zurück. Weitere dieser Gestalten traten aus dem Nebel. Immer weiter wurden die Gefährten aneinander gedrängt. 

Einer der Fremden hielt etwas in den Armen, das Athavar auf die Ferne nicht erkennen konnte. Doch es war nicht durchscheinend, wie die Kreatur selbst. Es hatte einen festen Körper. „Durgrim!", schrie Asran und deutete auf jenen, den Athavar inspiziert hatte. Der Mensch hielt die Luft an. Es war tatsächlich sein Gefährte, der in dem festen Griff des Geistes gefangen war. „Morslorde", flüsterte Dinduriel mit zitternder Stimme und Athavar hielt inne. Niemand konnte sich mit Morslorden messen, zumindest kein Mensch. Sie waren der lebendig gewordene Tod, die Eiseskälte. Sie waren Geister der Ermordeten, derjenigen, die selbst im Tod keine Ruhe fanden, die nicht gewürdigt wurden in ihrem Leben. Alle diese Seelen vereinten sich in sieben Geistern: Den Morslorden. 

Durgrim wurde von einem der Morslorde zu ihnen geschubst und taumelte gegen Thorwin. Der Mensch schob den Zwerg hinter sich. Er warf kunstvoll seinen Bogen in die Höhe und fing ihn wieder auf. „Dann woll'n wa' mal", sagte er und schoss in das Gesicht eines Morslordes. Ohne Widerstand glitt der Pfeil durch die Gestalt. Verwirrt blickte Thorwin seinem Pfeil nach. Er guckte wie ein Pferd, das unter seinen Hufen nur Erde fand und keinen Flecken Gras. Immer näher kamen die Morslorde und Athavar bereitete sich zum Angriff vor. Dann war der Moment gekommen. Er sprang vor und schnitt der Kreatur vor ihm einmal quer durch den Bauch. Eiseskälte griff nach seinem Schwertarm. Doch auch sein Angriff war wie der von Thorwin ins Leere gegangen.

Ohne etwas zu spüren glitt seine Klinge durch die Gestalt seines Gegenübers. Athavar duckte sich unter einem wütenden Schwertschlag hinweg und rollte sich über die Schulter ab. Instinktiv sprang er über einen weiteren Schwertstich und drehte sich einmal um sich selbst, um aus der Reichweite seines Feindes zu kommen. Schwerfällig folgte ihm der Morslord. Er ging langsam, wusste, dass er nichts zu verlieren hatte. Der Morslord holte aus und zielte auf Athavars Kopf. Instinktiv hob der Mensch sein Schwert um den Angriff zu blockieren, doch im selben Moment, in dem er es tat, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte vergessen, dass er gegen einen Geist kämpfte, dessen Schwert nicht materiell war. 

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt