~Der Traum~

19 4 2
                                    

Asrans Augen rasten unter seinen Lidern. Ja, er war nervös, was jetzt wohl auf ihn zukommen würde, aber noch mehr fürchtete er sich, was Navèst noch für Pläne mit ihm hatte. „Komme etwas näher zu mir heran", sagte sie und ihre Stimme klang unwirklich. Von weit fern. Als der Elf nah genug an der gefesselten Göttin stand, fiel er in die Knie. Hart schlugen seine Beine auf den Boden auf, aber Asran spürte keinen Schmerz. Er war bereits auf dem Weg ins Psychische. Navèst legte ihm eine Hand auf die Stirn und flüsterte etwas, dann war es plötzlich wie ein heftiger Schlag. Asran sah nicht länger Schwarz, sondern er sah Bilder an seinem inneren Auge vorbei rasen. 

Wie er als kleiner Junge seinen Vater angelacht hatte, wie er zum ersten Mal auf dem königlichen Hof war, wie er sich in Lasyn verliebt hatte, wie sie des Nachts immer wieder ausgeritten waren, um unter sich zu sein. Wie er zu Azariel geflohen war, wie Fassuin und sein Gefolge ihn geholt hatten und er in Mussling Athavar, Aristeas, Durgrim, Thorwin und Azariel kennengelernt hatte. Wie sie durch dunkle Nächte und kalte Tage gewandert waren und schließlich in Romak ankamen. Wie sie an der Ruine von Taebryn verloren hatten und wie sie dann gegen die Morslorde gekämpft hatten.

All dies durchlebte Asran erneut, er spürte die Wunden der Schwerter der Gracker, die Kälte der Morslorde und den Schmerz, als er Lyvaron abgab. Doch was er nicht spürte, waren die Tränen, die in Strömen über seine Wangen liefen. Er war bereits in die Andere Welt gegangen, die Welt, die er so oft verflucht hatte und auch geliebt. Die Welt der Psyche. Die, wo nur sein Gehirn anwesend war. Plötzlich hielt die Abfolge der Bilder inne und Asran sah sich selbst, in einem Gewölbe, beleuchtet von Diamanten und Edelsteinen. Und er sah, wie Navèst Wörter formte. Dann verblasste der Raum plötzlich und wich einem großen, schwarzen Turm. Drohend erhob dieser sich von einfachen Häusern. Die Straßen waren waren menschenleer, nur ein einziges Licht flackerte im Turm. Asrans Blick schnellte auf den Turm zu und durchbrach dessen Mauern. Eine dunkle Treppe führte hinauf in den Turm, eine zweite hinab.

Sein Blick folgte der hinab und Asran konnte im schwindenden Licht Kerkerzellen entdecken. Nur in einer einzigen saß eine Gestalt zusammengekauert. Neben der Person lag ein Gegenstand, den Asran nicht so recht zuordnen konnte. Die Aura der Gestalt war fast verblasst, die des Gegenstandes brannte in seinen Augen. Asran trat näher an die Gestalt und erschrak, als er sie erkannte. Das war Aristeas! Eine kalte Vermutung überkam ihn, während er sich neben den Zauberer niederkauerte und mit unsichtbaren Händen nach ihm griff. Er konnte nichts machen, er sah nur das Bild des fast toten Zauberers. Mit Entsetzen und unterdrücktem Zorn fuhr Asrans Blick durch die Kerkerzelle. Da erkannte der Elf die blutigen Buchstaben auf dem Boden. 

„Vervollständige den Zauber, dann wirst du ihn retten und den Stein der Erfüllung besitzen", ertönte Navèsts Stimme. Asran tauchte seine Finger in das Blut des Druiden. Er würde Navèst vertrauen müssen, nur sie konnte ihn zurück in die Gegenwart holen. Oder war das alles vielleicht gar nicht echt? War es vielleicht nur ein Trugbild, um ihn auf die Probe zu stellen? Er wusste es nicht und begann das Geschriebene zu lesen. Es waren die Buchstaben der alten Sprache der Elfen. Obwohl Asran noch nie das gelesen hatte, was Aristeas auf den Boden geschrieben hatte, wusste der Elf, wie er es fortsetzen musste. Der Zauber kam ihm merkwürdig vertraut vor. Und so begann Asran die Buchstaben weiterzuführen. Mit leichter Hand malte er die Zeichen auf den Boden des Kerkers.

Der Text handelte um eine verlorene Seele, die den Weg nicht mehr zurück in die Welt der Lebenden fand. Und dann war da ein Lied. Ein Lied einer Geige, das den Tod besänftigte und die Seelen, die es noch nicht verdient hatten zu sterben, wieder zurückzuholen. Der Text war traurig, Asran erkannte sich selbst darin wieder. 

Als der Elf das letzte Wort geschrieben und den Punkt gesetzt hatte, zog sich mit einem Mal alles in ihm zusammen. Wie gelähmt blieb sein Blick auf den Zeichen, er konnte sich nicht rühren. War das alles Navèst gewesen? Gehörte das zum Zauber? Oder hatte die Göttin ihn somit getötet, indirekt? War er jetzt verdammt dazu, in der Vergangenheit zu lesen? Er vermisste Grorphil, den alten Zwerg, der ihm in dieser Situation am liebsten den Kopf gewaschen hätte. Asran lachte freudlos. Dass er jemals einen Zwerg vermissen würde! Die Zeiten änderten sich wirklich. Plötzlich hob sich mit einem Mal die Brust von Aristeas und das Leuchten des Gegenstandes neben ihm floss in den Zauberer über. Er setzte sich auf und sah sich um. Es war unmöglich, dass er Asran sehen konnte, doch sein Blick war genau auf den Elfen gerichtet. 

Asrans Blick verschwamm und langsam kehrte er zurück in die Wirklichkeit. Er spürte die Bahnen vertrockneter Tränen auf seinen Wangen und das Blut seiner aufgeplatzten Knie. Er spürte Navèsts Anwesenheit und kam sich seltsam geborgen vor. Der Elf schlug die Augen auf und blickte direkt in das Gesicht der Göttin. Ihre Ketten waren abgefallen und lagen nun in kleinen Haufen neben ihr. Asrans Lippen waren rissig, seine Kehle trocken.

„Wie lange war ich weg?", krächzte der Elf. Jedes Wort tat ihm im Hals weh. „Du warst etwa einen Mondlauf im Traum gefangen. Der Zauber, den du fortführen musstest, besitzt drei Seiten. Und jede einzelne Rune muss mit Sorgfalt geschrieben sein", erwiderte sie. Asran schluckte. Einen Monat! Nur noch schemenhaft konnte er sich an seinen Traum erinnern. Es war etwas mit Aristeas gewesen... 

Glühend heiß lag ein Gegenstand auf Asrans Brust. Nur langsam kühlte er ab. Mit zittrigen Händen nahm der Elf den Stein in die Hand. „Ist das der...?", fragte er und Navèst führte ihn fort: „Der Stein der Erfüllung." Etwa halb so groß wie Asrans Handfläche und mit strahlend weißer Farbe schmiegte sich der Stein perfekt in des Elfen Hand. Stolz überkam Asran und ein bisschen Furcht. Wie konnte er einen Stein aus einem Traum mit in die Gegenwart nehmen? Navèsts Welt war ihm unheimlich. 

Sie blickte ihn voller Stolz an, wie eine Adlermutter, deren Jungen zum ersten Mal geflogen waren. Asran gab ihr stumm den Stein. Er war immer noch heiß. Navèst nahm ihn ebenso still entgegen und legte ihn sich um den Hals an ein Lederband. Mit einem Mal schien sie zu wachsen, noch mächtiger zu werden. Ihr Auftreten war makellos. Ihre schwarzen, rissigen Lippen wurden weich und krischrot. „Warum brauchtest du den Stein?", fragte Asran, er war nicht länger von ihr besessen. „In ihm war meine Macht gefangen. Ich danke dir, nun werden wir in deine Welt gehen und das Schicksal der Welt ändern", erwiderte sie und öffnete ein Lichttor. Und nun, an ihrer Seite, fürchtete sich Asran nicht mehr, als das grelle Licht ihn verschlang.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt