Es war, als würde ein Teil von Asran gehen. Ergon hielt ihn umklammert, der Drache hatte seinen Reiter mithilfe seines eigenen Körpers geschützt. Es war eine Umarmung gewesen. Eine Umarmung, die Asran tief berührte. Ergon hatte ihn vor seinen Brustkorb gehalten, ihn mit beiden Klauen umklammert, und jetzt hob sich seine Brust nicht mehr. Er atmete nicht mehr, lebte nicht mehr. Asran überkam tiefe Traurigkeit. Zu gerne hätte er mit Ergon geredet, die Magie und die Welt erforscht und wäre einfach nur bei ihm gewesen. Asran befreite sich aus der innigen Umarmung seines Drachen. Tränen liefen wie Sturzbäche seine Wangen herab. Warum ging das alles so schnell? Warum hatten sie so wenig Zeit miteinander gehabt? Ergons Augen waren offen, das Grün, das Asran so oft so geheimnisvoll angesehen hatte, war glanzlos. Jemand legte Asran von hinten die Hand auf die Schulter und der Elf fuhr herum. Athavar. Asran war froh, dass er nicht alleine war.
Der Menschenkönig nahm seinen Gefährten in den Arm und klopfte ihm auf die Schulter. Asran war froh, dass Athavar den Blick auf das glanzlose Grün von Ergons leblosen Augen verdeckte. Und Asran war froh, dass Athavar nichts sagte. Alles Gesagte würde nichts verändern können, was schon geschehen ist. Warum war das Leben so grausam? Hunderte Fragen schwirrten Asran durch den Kopf. Vor wenigen Jahren war das Leben noch so perfekt gewesen. Als Asran seine Ausbildung zum Krieger begonnen hatte. Wie sein Lehrmeister gegen ihn gekämpft hatte. Wie er Lasyn getroffen, und die Welt einfach nur schön gewesen war. Und jetzt war alles verloren. Sein scheinbar göttlicher Vater Asren hatte einen Teil von Asran getötet. Ergon. Lyvaron war in irgendwelchen Höhlen der Zwerge und Asran wollte gar nicht wissen, wie Lasyn reagiert hatte, als ihr Lyvaron genommen wurde. Erneut sammelten sich Tränen in Asrans Augen. Wieso war das Leben nur so ungerecht? Wieso hatte es binnen so kurzer Zeit all das verloren, wofür es sich gelohnt hatte?
—————
Athavar hielt Asran in einer stummen Umarmung. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie sich der Elf fühlen musste. Asran klammerte sich an ihn, wie sich ein Neugeborenes an seine Mutter krallte. Athavar spürte feuchte Tränen auf seiner Schulter. Aber er sagte nichts. Er selbst wusste nur zu gut, wie es war, jemanden zu verlieren. Damals, in seiner ersten Schlacht, war er stolz darauf, dass er neben seinem Vater geritten war. Und dann hatte ein heimtückischer Pfeil aus dem Hinterhalt Ancratis, den damaligen König von Romak, getroffen. Sein Vater hatte nicht mehr viel Zeit gehabt. Elanor war seine damals gefürhte Klinge gewesen, der dunkle Lord hatte sie an sich genommen. Athavar tastete nach dem Griff des Schwertes. Diese Waffe war einer der wenigen Nachlässe seines Vaters und er war nur allzu stolz, sie tragen zu dürfen.
Athavar sah hinauf in den Himmel. Auch wenn es Asran gerade nicht gut ging, diese gottverdammte Schlacht war noch nicht vorbei!
Er drückte den Elfen von sich und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. „Asran! Um Ergon musst du später trauern! Ob du willst oder nicht! Da draußen sterben deine Männer! Deine Freunde! Deine Verwandten! Wenn du Schlachten fechtest, so denke nicht an die Opfer, die du darbringen musst, sondern an die, die wiederkehren werden! Wäge es ab und schau, welche Zahl überwiegen wird! Lohnt es sich, dafür zu sterben, dass tausende Männer wieder zuhause bei ihren Frauen und Kindern lachen können!", fuhr er ihn an. Asran nickte stumm. Seine Lippen bebten. „Dann wirst du jetzt dein beschissenes Schwert nehmen und kämpfen!", fuhr Athavar fort. Asran nickte erneut, dann wandte er sich ab und verließ den kleinen Platz, auf den Ergon gefallen war.
Athavar selbst suchte mit seinen Augen den Himmel ab. Wo war Navést? Hatte auch sie sie im Stich gelassen? Wendete sich alles gegen sie? Athavar trat an das Sprechrohr. „Sucht Navést! - Ende!", befahl er dem Innenhof und steckte den Pfropfen wieder in das metallische Rohr. Dann nahm er sich die Zügel eines weißen Arabers und schwang sich in den Sattel. Er wusste, was er zu tun hatte. Sein Ziel war direkt über ihm.
—————
Athavar stand auf dem Wehrgang und wartete ab. Er kämpfte nicht mit den Elfen aus Daulinien oder den Zwergen mit. Er hielt sich weiter hinten, dort, wo noch viele Spitzohren und Höhlenbewohner waren und ihm Deckung gaben. Sein Blick war in den Himmel gerichtet. Die Sterne leuchteten hell in dieser Nacht. Der Mond war groß, sein Licht rot. Er war der Beweis, dass diese Nacht Blut geflossen war. Sein Licht spiegelte sich auf den Klingen und Rüstungen der Kämpfenden. Und auf den Schuppen eines weißen Drachen.
Athavar machte sich bereit. Navést war verwundet, er würde Nadińe verwunden! Ein langer Flammenstrahl ging auf sie nieder. Athavar verfolgte ihn. Er kam direkt aus der Nacht. Ein Leib bedeckte dort die Sterne. Der dunkle Lord musste auf Canad reiten. Es war die perfekte Gelegenheit!
Nadińe ließ sich fallen und flog nun unmittelbar über dem Wehrgang. Sie spie riesige Flammen, während ihr Schwanz und ihre Klauen die Verteidigung von Daulinien vom Wehrgang warf. Athavar machte sich zum Sprung bereit. Gleich würde Nadińe über ihm sein. Und dann würde sie es bereuen! Er schaute, ob alles richtig saß: sein Schwert, ein langes Seil und ein Messer. Athavar nahm das Seil und prüfte den Knoten. Er würde ihn halten. Nadińe war nun beinahe über ihm. Athavar schwenkte das Seil und warf es dann auf den Drachen. Es blieb an einer Kralle hängen.
Der Menschenkönig hielt sich mit einem Arm an dem Tau fest und sah herauf zu der Drachenmutter. Sie bemerkte das Tau nicht. Es war für sie nur so viel, wie ein Mensch einen Spinnenfaden bemerkte. Athavar zog sich an dem Seil hoch. Erst die linke Hand, dann die Rechte. Immer höher. Seine Muskeln brannten. Er biss die Zähne zusammen und hielt inne. Er hatte fast die Hälfte erreicht! Noch etwa vier Schritt und er wäre einigermaßen in Sicherheit. Erneut spannte er alle Muskeln an und zog sich hoch. Wenn er jetzt fallen würde, dann wäre alles umsonst gewesen...
‚Nicht daran denken!', schalte er sich stumm. Den Blick wieder fest nach oben gerichtet, zog er sich Stück für Stück hoch, bis er den riesigen Fuß von Nadińe erreicht hatte. Ihre Krallen waren länger als sein Unterarm. Sie würden widerstandslos durch ihn fahren, wenn... Er schüttelte den Kopf. Er musste zuversichtlich sein! Er zog sich auf die Klaue und wartete erleichtert, bis das Krampfen seiner Armmuskulatur ein wenig nachgelassen hatte. Dann stand er auf und griff nach der ersten Schuppe von Nadińe. Sie saßen fest, aber jede einzelne Schuppe war an der einen Seite etwas nach vorne gebogen. Athavar hatte das oft bei Ergon gesehen. Die Schuppen bildeten eine perfekte Möglichkeit zu klettern.
Der Menschenkönig presste seinen Körper an den von Nadińe, um sich nicht unnötig viel Beschwerden beim Klettern zu machen. Dann setzte er den linken Fuß an den Leib des Drachen und drückte sein Bein durch. Währenddessen griff er mit der rechten Hand weiter nach oben und zog den anderen Fuß nach.
So hatte er schließlich den Rücken der Drachendame erreicht. Er wartete nur kurz, bis sich sein schwerer Atem gelegt hatte, dann balancierte er über den Widerrist und krallte sich dann an den langen, gebogenen Hörnern fest. Sie waren so groß wie er selbst. Jetzt musste er behutsam sein. Ein falscher Tritt und er wäre verloren. Die Schuppen waren glatt, seine Sohlen ausgelaufen. Vorsichtig prüfte er jeden einzelnen Schritt, bevor er wirklich aufsetzte. Er passte sich den Bewegungen von Nadińes Körper an und ging leicht in die Knie.
Er kniete nieder. Unter ihm waren die zwei weißen Augen. Und darunter die Nasenlöcher. Er hatte sich nicht mit Gerüchen eingerieben, die seine Identität verbergen würden. Er musste schnell handeln.
Athavar zog sein Schwert und stieß es Nadińe ins Auge. Er traf genau die Pupille. Geschmeidig glitt es durch den Augapfel, bis es auf einen Widerstand traf. Sie schrie laut auf, ihr Flammenstrahl verging. Sie reckte ihren Kopf in die Höhe und schrie erneut. Ihr Schrei war heiser, ohrenbetäubend. Athavar zog an dem Schwert. Unmöglich. Es steckte tief in dem Auge. Er zog sein Messer. Es musste auch damit gehen. Er stach ins zweite Auge und Nadińe schüttelte ihren Körper. Sie verlor ihr Gleichgewicht und stürzte wie Ergon herab. Athavar machte sich zum Sprung bereit. Sämtliche Pfeile gingen auf den großen Drachen nieder, als er dem Boden entgegen stürzte. Nadińe drehte sich und prallte gegen einen großen Turm. Ihr Körper erzitterte und Athavar verlor den Halt. Er rutschte ab und schlug hart auf den Boden auf. Er hörte seine eigenen Knochen knacken und ihm wurde ohnmächtig. Doch bevor die Dunkelheit ihn überkam, sah er, wie Nadińes Körper neben ihm aufprallte und sämtliche Elfen mit Waffen anrückten, um ihre Ankunft mit Schwertern zu begrüßen.
DU LIEST GERADE
Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...