Mussling erfüllte alle Vorstellungen, die Asran von Menschenstädten hatte: Die Gebäude waren verwittert, Stein bröselte von ihnen ab. Einzig eine richtige Straße führte durch die Stadt. Es stank nach Unrat, ein kleiner Fluss schlängelte sich an der spröden Stadtmauer entlang. Asran mochte gar nicht genau hinsehen, wollte gar nicht wissen, was in dem Fluss trieb. Sämtliche Felder lagen verteilt um die Stadt. Außerhalb der Mauer lagen kleine Bauernhäuser, sowie große Höfe. Von der Sonne dunkel gebrannte Menschen hockten im Feld und ernteten Weizen. Holzkarren wurden von Ochsen gezogen, die wiederum von den Bewohnern von Mussling angetrieben wurden. Auf den Karren lagen Weizenbündel.
Hinter der Mauer stießen sie auf eine sehr belebte Straße. Menschen schwirrten wie kleine Mücken über den Platz. Asran fühlte sich beengt. Fassuin, der voraus ging und ihnen einen Weg bahnte, warf einer Frau ein kleines Silberstück zu und nahm sich zwei Äpfel ihres Standes. Immer mehr Verkaufsstände säumten ihren Weg. Es gab Kleider zu kaufen und Essen. Es gab geschnitzte Holzspielzeuge wie Puppen oder Pferde und es gab Kräuter oder Vögel zu kaufen. Die Vögel wurden in Käfigen gehalten, sie hatten rotes oder grünes Gefieder. Aufgeregt zwitscherten sie.
Fassuin führte die beiden Elfen zielsicher aus der Menschenmenge heraus und brachte sie zu einem kleinen Haus. Geduckt stand es etwas abseits der anderen Bauten. Es war aus Lehm erbaut, das Dach nichts weiter als eine etwa handbreite Schlammschicht. Statt einer Tür hing ein dicker Pelzvorhang hinter der Öffnung, durch die man in das Haus gelingen konnte. Fassuin deutete ein Lächeln an, dann sagte er: „Bitte entschuldigt dieses bescheidene Haus. Es ist einer Prinzessin nicht würdig, doch haben wir keinen anderen Ort, wo Ihr verweilen könnt. König Sahisson erwartet Euch zur ersten Abendstunde, Lasyn, wenn Ihr nicht eine andere Nachricht erhalten solltet. Wenn Ihr mich nun entschuldigt?" Lasyn nickte und Fassuin verschwand samt seines kleinen Gefolges.
Asran schlug den Vorhang zur Seite. Er musste den Kopf einziehen, damit er nicht gegen die Decke stieß, die von dunklen Holzbalken gestützt wurde. Es stank nach Rauch, das Loch, das in der Decke eingelassen war, war von Ruß schwarz gefärbt. Asrans Blick glitt über den steinernen Kamin, bis hin zu zwei Fellen, die auf dem Boden ausgebreitet waren und wohl als Schlafplatz dienen sollten. Er schnalzte mit der Zunge. Lasyn legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. „Es ist ja nur vorübergehend", raunte sie und lächelte ihm verschwörerisch zu.
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Am späten Nachmittag klopfte jemand von außen gegen eine der Wände. Asran schlug seinen Umhang zurück, sodass man das Schwert sehen konnte. Er wusste nicht, wer hinter dem Vorhang stehen würde, aber der Ruhestörer sollte sehen, dass Asran ein Krieger war. Der Elf brauchte sein Schwert zwar nicht, denn er konnte auch ohne Waffe jemanden bewusstlos schlagen, wenn nicht sogar töten, doch ein Schwert an seiner Hüfte würde ihm Ansehen verleihen.
Asran hatte mit einem Boten gerechnet, doch vor ihm stand ein alter Mann. Er hatte ein hart geschnittenes Gesicht. Ein weißer Bart reichte ihm bis auf die Brust. Sein Haar hatte er mit einem Lederriemen zurückgebunden. Der Fremde trug ein langes Gewand, das ihm bis zu den Knöcheln reichte und er hatte sich schwer auf einen Stab gestützt. Auch er trug, so wie Asran, ein Schwert an seiner Seite. Trotz seines markanten Gesichts erweckte der alte Mann einen freundlichen Eindruck. Braune Augen glänzten Asran an.
„Ich bin Aristeas. Es freut mich, dich zu sehen, Asran", sagte er mit warmer Stimme. Asran kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick erneut an Aristeas herabgleiten. Woher kannte der alte Mann seinen Namen? „Das Misstrauen steht dir ins Gesicht geschrieben, mein Freund", fuhr Aristeas lächelnd fort. „In wessen Auftrag bist du hier?", fragte Asran, noch immer scheu. „In wessen Auftrag?", der Mann lachte herzlich, „Ein Zauberer besitzt keinen Auftrag. Er taucht immer dort auf, wo man einen mächtigen Druiden benötigt." Asran fuhr erschrocken zurück. Ein Zauberer! Niemand konnte sich mit Zauberern messen. Sie waren machtvolle Druiden, ersannen Zauber und benutzten sie. Binnen weniger Herzschläge konnten sie Magie weben und magische Tore öffnen, halbtote Geschöpfe ins Leben zurückholen und die Zeit anhalten, wann immer sie mochten. Aristeas' Lächeln verschwand.
„Sicher weißt du um dein Schicksal, Asran. Du bist auserwählt, dem dunklen Herrscher die Stirn zu bieten und so ganz Mittelland zu retten. Du musst gegen ihn antreten! Nur so kann das Feuer, das sich in der Welt verbreitet hat, erstickt werden. Mit der Macht der Elfen. Du musst mit mir kommen. Ich bin schon oft durch Mittelland gereist und erwählte Gefährten, die der deiner würdig sind und dir bis in den Tod folgen werden. Die Zeit drängt. Du darfst nicht verweilen. Zum Zenit erwarte ich dich auf dem Hof. Sei pünktlich, denn die Welt ist in Begriff unterzugehen", sagte der Zauberer. Er drehte sich um und fügte dann, mit zu Asran abgewandtem Rücken hinzu: „Und Lasyn geht zurück zu ihrem Heimatwald. Das Volk braucht sie. Es werden Schlachten kommen, die für Laurentius unumkehrbar sein werden. Einer muss für das Volk sorgen." Damit war der weiß gewandete Druide in den Gassen verschwunden.
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Als Asran zum erwünschten Zeitpunkt bei Hof erschien, erkannte er schon von weitem eine Gruppe versammelter Männer. Ein unbehagliches Gefühl hatte sich in seinem Bauch eingenistet, aber der Elf war fest entschlossen, nicht umzudrehen und wieder zu verschwinden. Als er näher kam, sagte Aristeas: „Ich sehe, du hast dich überwunden. Deine Liebe zurückzulassen wird schwer für dich sein, doch vermagst du dein Schicksal nicht ändern. Nun, da du hier bist, kann ich dir deine zukünftigen Gefährten vorstellen. Zu meiner Linken steht Athavar, Sohn des Ancratis, Herrscher von Romak. Er ist der beste Schwertkämpfer der Menschen." Ein großer Mann mit braunem, kurz geschnittenem Bart und langen, leicht lockigen Haaren senkte sein Kopf. Auf des Menschen Rücken war ein großes Schwert geschnallt. Athavar lächelte und um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen.
„Das ist Durgrim. Er ist der Thronfolger des Königs der Zwerge und ein herausragender Krieger", fuhr Aristeas fort. Der Zwerg reichte Asran bis etwa kurz über die Hüfte. Er hatte ebenfalls einen braunen Bart, der sorgfältig zu einem Zopf geflochten worden war. Sein Haar war unter einem schweren Messinghelm verborgen. Über seinen Schultern lag ein verbleichter grüner Umhang und um die Hüften trug er zwei große Äxte. Aristeas lächelte dem Zwerg geheimnisvoll zu und fuhr fort: „Dinduriel, Elf aus deiner Heimat. Mit Doppelschwertern kennt er sich ebenfalls so gut aus wie mit Heilkräutern und Zauberei." Ein Elf löste sich aus der Gruppe und kam auf Asran zu. Dann ergriff Dinduriel ihn am Handgelenk und sagte mit fester Stimme: „Wenn mein Tod über dein Leben bestimmen würde, so wird es geschehen!" Asran sah fest in Dinduriels blaue Augen. Keinen Spott fand er in ihnen. Der Elf meinte es ernst.
„Thorwin, ein Mensch aus dem nördlichen Volke der Shi-Lang. Kein anderer Mensch schießt Pfeile ab, die so zielsicher wie der gute Wille und das reine Herz Thorwins sind", schloss Aristeas und der letzte Mann löste sich aus der Gruppe. Ein Mensch mit rotem Bart und Haar, das in der Sonne feurig glänzte. Ein Schild war ihm auf den Rücken geschnallt. In der Hand trug Thorwin einen Bogen. Er lachte spöttisch: „Gute Worte, alter Mann." Zu Asran gewandt: „ Wird wohl schwer für dich gewesen sein, dein Weib zurückzulassen. Ich habe von ihr gehört. Für eine Königstochter ist sie jedoch ziemlich dünn, findet ihr nicht auch?" Thorwin drehte sich zu seinen zukünftigen Gefährten um. Der Mensch schien verwirrt, dass keiner lachte. Asran zog vor Wut die Augenbrauen zusammen und sagte: „Ich wette um meine Kriegerehre, dass Lasyn dich in einem Zweikampf auch ohne Waffe tot schlagen könnte!" Thorwin drehte sich wieder zu Asran um. „So?", fragte er dann, „Eine merkwürdige Eigenschaft der Elfen, die Weiber kämpfen zu lassen. So zart wie sie sind, wird wohl eher ein Schmetterling einen Feind besiegen." Er lachte wieder.
Asran versuchte, sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen und sagte mit starrem Gesichtsausdruck: „Es ist eine Tradition der Elfen, dass jeder gleichberechtigt ist. Wir können zum Nachmittag ja sehen, ob du die Kunst des Schwertes besser beherrschst als Lasyn. Sie ist eine ausgebildete Kriegerin und hat sich ganz ihrem Schwert verschrieben." Thorwin versuchte zwar reglos dreinzublicken, aber Asran merkte zufrieden, dass der Mensch unruhig wurde: „Nun, da ich mich dem Bogen verschrieben habe, wird es wohl ein ungleicher Kampf sein. Doch bin ich ein Mann und lasse mich dadurch nicht einschüchtern." Asran lächelte spitz: „Fein. Der Bogen ist für Lasyn eine feige Waffe. Nur wer seinem Feind gegenüber steht, hat die Ehre ein Krieger zu sein."
„Es reicht!", zischte Aristeas, der bisher schweigend zugehört hatte, plötzlich. „Wir sind hier, um die Welt zu retten, und nicht unnötige Duelle auszuüben. Diese Männer sind für dich gekommen. Sie ziehen mit dir in eine Schlacht, Asran! Sobald das grüne Amulett auftaucht, werden wir in den Krieg ziehen müssen. Du wirst dem dunklen Herrscher die Stirn bieten, denn wenn du die Magie des grünen Amulettes erlernt hast, wirst du vielleicht stark genug sein, den dunklen Lord zu bannen. Du wirst die Schöpfer unserer Welten aufsuchen müssen. Mit ihrer Hilfe gelingt es uns vielleicht, das Werk Asrens zu zerstören. Die fünf Amulette zu zerstören!", fügte er dann etwas ruhiger hinzu.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...