~Die goldene Halle~

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Asran fühlte sich stolz und erhaben, als er mit Navèst durch das Lichttor in das Zwergenreich schritt. Seine Erwartungen erfüllten sich: Niemand war in der Halle der Magie anwesend. Doch als die beiden auf den Flur hinaustraten, tummelten sich dutzende Zwerge in den engen Gängen. Keine einzige Zwergin war unter ihnen, allesamt waren sie Männer. Krieger, mit stolzen Bärten und Waffen. Das Gerede verstummte augenblicklich, als die Göttin und der Elf sich einen Weg durch die Menge bahnten. Die Flügel schützend gehoben wirkte Navèst wie ein Engel in all seiner Pracht. 

Ihr Gesicht war hart, unnahbar. Ihre Augen suchten die dunklen Ecken der Gänge ab, stets aufmerksam. Eine ihrer Hände lag auf ihrem Rapier. Mit langen Schritten ging sie hinter Asran. Sie ließen die verblüfften Zwerge hinter sich und liefen geradewegs auf den Ausgang des verborgenen Reiches zu. Asran wusste nicht, wo Navèst ihn hinführte, aber er vertraute ihr. Außerdem konnte ihm hier bei den Zwergen nichts geschehen. Er war ihr Gast. 

Kurz vor dem Tor bogen sie scharf ab und erreichten einen großen, goldenen Raum. Prunkvoll war alles mit Blättergold überzogen, keine Macke war in dem Lack der Tische, Stühle  und dem Besteck vorhanden. Goldene Ketten hingen um goldene Kronleuchter, Bilder in vergoldeten Bilderrahmen zeigten gewonnene Schlachten. Weiter hinten in der goldenen Halle war eine lange Tafel aufgestellt. Angeregt unterhielt sich Athavar mit einem Zwerg. Neben dem Menschenkönig saß Laurentius. Sein Haar wirkte genauso golden wie die Halle. Der Elfenkönig saß gerade und schien sich den Zwergen entziehen zu wollen.

Etwa dreißig Mann hatten an der Tafel Platz. Neben dem Zwerg, mit dem sich Athavar unterhielt, saß Grorphil. Sein langer grauer Bart und seine trüben Augen machten ihn alt. Tiefe Sorgenfalten hatten sich mit der Zeit in sein Gesicht gefressen. Er schien abwesend, mit seinen Gedanken woanders zu sein. Asran ließ sich neben ihm nieder und augenblicklich entfaltete sich ein Lächeln in des Zwergen Gesichtes. „Du hast mir gefehlt", sagte der alte Zwerg und klopfte Asran auf die Schulter. „Du musst mir sagen, wie es war. Aber erst kommen noch alle anderen Gefährten", fuhr der Meister der Magie fort. Asran erwiderte sein Lächeln knapp, aber ihm brannte eine Frage auf der Zunge.

„Wo ist...?", fragte er, aber Grorphil unterbrach ihn: „Er ist erstaunlich gewachsen. Du wirst ihn reiten können. Aber vorerst darfst du ihn noch nicht sehen. König Grimbold könnte jeden Augenblick eintreffen!" Weitere Zwerge beraten den Raum. Nur wenige gesellten sich an die lange Tafel, die meisten mussten an den niedrigeren Tischen Platz nehmen. Es schien, als würden alle Zwerge, die auf den Gängen gewesen waren, in den Saal strömen. Von jungen Buben, die kaum ihren ersten Flaum hatten, bis zu Zwergen, die noch älter als Grorphil aussahen, kamen massenhaft wie Ameisen. 

Überall, in jedem Gespräch, wurde der Name Grimbolds erwähnt. Alle sprachen mit Ehrfurcht und Stolz von dem Zwergenkönig. Erst jetzt wurde Asran Grimbolds Macht bewusst. „Wann er wohl kommen wird?", fragte ein Zwerg mit blondem Haar und Bart neben Asran. Navèst richtete ihren unheimlichen Blick auf eben diesen Zwerg. „Dein König ist sehr viel näher als du denkst, Zwergenbrut", erwiderte sie dann. Sie hatte in der goldenen Halle noch kein einziges Wort gesprochen. Und als hätte sie damit ein geheimes Zeichen gegeben, öffneten sich die Tore der Halle mit lautem Klirren. Alle Gespräche verstummten, alle Blicke richteten sich auf die zwei Zwerge, die durch die Torflügel traten. 

Grimbold trat in all seiner Pracht in die goldene Halle. Ein Kettenhemd glitzerte silbern und verlieh ihm, ebenso wie die langstielige Axt, ein kriegerisches Aussehen. Mit seiner Wildlederhose und dem schwarzen Bart erinnerte er ein wenig an einen Jäger. Drignum, dessen Gestalt neben Grimbold fast verblasste, hatte einen grauen Umhang um die Schultern geschlungen, das Gesicht tief unter der Kapuze verborgen. Die beiden Zwerge schritten geradewegs auf die lange Tafel zu. Mit freundlichem Nicken und Händeschütteln begrüßte der Zwergenkönig sein Volk. 

Als er dann den Thron an der Tafel erreicht hatte, ließ er sich seufzend nieder. Und plötzlich fing jeder an, in dem selben Moment zu reden. Zwerge lachten, rülpsten und erzählten lauthals Geschichten, die Geräusche waren wie Nadelstiche in Asrans Ohren. Essen wurde herbeigetragen, Fleisch mit Trüffelsoße. Bei der Rückkehr des Königs wurde nur das beste aufgetischt. Der Abend zog sich lang ins Unerträgliche. Minuten vergingen wie ganze Jahre, Stunden wie ein Leben. Asrans ganzes Innere entzog sich dem Getümmel der goldenen Halle, seine Gedanken waren bei Ergon. Er brauchte den Drachen, gerade jetzt, wo er so fremd war. Wo waren Throwin, Durgrim und Aristeas? Konnte Ergon vielleicht sagen, ob das im Kerker nur ein Trugbild gewesen war? Der Geist eines Drachen soll ja, den Legenden nach, bis an den Anfang der Welt reichen und sich an Dinge erinnern, die den anderen Geschöpfen verschlossen blieben. 

Navèst erhob sich und augenblicklich verstummten die aufgeregten Zwergenstimmen rund um sie herum. Auch sie hatte beim Essen teilnahmslos gewirkt, keiner hatte sich getraut, die unnahbare Göttin anzusprechen. Laurentius neben ihr hatte sich tief in ein Gespräch mit einem glatzköpfigen Zwerg verwickelt. Alkoholgeruch wehte von dort herüber. „Asran und ich müssen und nun verabschieden. Es gibt noch vieles Ungeklärtes, das nicht für fremde Ohren geeignet ist", sagte sie kühl. Grimbold sah von seinem Teller auf und nickte. Dankbar sah Asran zu Navèst herüber. Sie wusste, wie es um ihn stand. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schritt Navèst auf den Gang hinaus und Asran folgte ihr so schnell er konnte.

Draußen auf dem Gang drehte sich die Göttin ruckartig um und packte Asran bei den Schultern. „Hör mir zu!", zischte sie und senkte ihre Stimme. „Ergon ist in den noch unbebauten Höhlen! Warte, bis jeder Zwerg in den goldenen Hallen ist und dann flieg mit ihm nach Mussling, hörst du! Thorwin und Durgrim sind in Gefahr, sie brauchen dich! Nur du kannst schnell genug in die Menschenstadt kommen, um sie noch retten zu können! Ich öffne dir ein Lichttor, du musst allein gehen! Frag nicht weiter, sondern hole deinen Drachen! Wir treffen uns in der magischen Halle!", befahl sie, blickte sich um und verschwand in dem Schwarz der Gänge.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt