‚Lande!', schrie Asran panisch über Gedanken. Ergon jedoch reagierte nicht. Sein Körper versteifte sich, er trudelte mit Asran hinab. ‚Ergon!', rief Asran, den Tränen nahe. Der Drache aber schien ihn nicht zu hören. Er war wie versteinert. Seine Flügel waren ausgebreitet, schlugen gegen die weißen Gebäude Dauliniens. Asran spürte Ergons Schmerz mit, spürte, wie sich sämtliche Körperteile verdrehten, doch der Drache beachtete dies nicht. Sein Blick war auf den weißen Drachen gerichtet, der in allen erdenklichen Farbtönen glänzte. ‚Fliege doch, verdammt nochmal!', versuchte Asran es ein letztes Mal, aber wieder gingen seine Worte ins Leere. Er blickte panisch herab auf den Boden. Er kam immer näher. Noch zwanzig Schritt. Fünfzehn Schritt.
Ohne weiter nachzudenken sprang Asran von Ergons Rücken. So würde er nicht sterben! Hart prallte er auf den Wehrgang auf, sämtliche Knochen knackten. Er war dazu verdammt, sich nicht bewegen zu können und seinem Drachen zuzusehen, wie er weiter aus dem Himmel fiel, die dunkelgrünen Augen auf den weißen Leib gerichtet. Würde Ergon Asran jemals wieder mit diesen Augen ansehen können? Würde er jemals wieder so tief in seine Seele blicken können? Schreie ertönten neben Asran. Die Zwerge hatten ihn bemerkt, endlich! Ihre Stimmen klangen dumpf, von ganz weit fern. War das das Ende? War das sein Schicksal? Einfach so aus dem Himmel gefallen, weil sein Drache ihm nicht mehr gehorchte? Asran liefen stumme Tränen über die Wangen. Was hätte er doch getan, um Lasyn ein weiteres Mal zu sehen. Um Lyvaron in die Arme zu nehmen. Er wäre an die Grenzen der Welt gesegelt. Und er wäre heimgekommen. Jetzt aber lag er schier unheilbar auf einem Schlachtfeld. Er war müde. Unfassbar müde. Ihm war es gleichgültig, ob die Welt in Chaos versank. Er wollte nur noch schlafen.
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Navést flog so schnell sie konnte zu dem Heillager. Das konnte doch nicht sein! Die Drachen waren viel emotionaler, als sie es gedacht hatte! Dass Ergon in Schockstarre versetzt worden war, nur weil er seine Mutter gesehen hatte! Der Drache hatte sich von seinem Sturz erholt. Die Rüstung, die die Zwerge ihm gegeben hatten, hatten das Schlimmste verhindert. Aber Asran stand auf der Schwelle zum Tod, so hatte man es ihr gesagt. Dutzende Heiler hatten sich um des Zwergenkönigs Lager versammelt.
Navést bahnte sich einen Weg durch die Menge und als sie Asran sah, wurde ihr übel. Sein Gesicht war eingefallen, blutige Tränen waren über seine Wangen geflossen. Eine Übelkeit erregende Fleischwunde war auf seiner Hand, sie zog sich hinauf bis zum Ellenbogen. Eine Rippe stach aus Asrans Brustkorb, das Schienbein aus seiner linken Wade. Die Verbände, die um ihn gewickelt waren, waren von Blut durchtränkt. Der Elf hatte viel von seinem Lebenselexier verloren, es musste etwas geschehen, jetzt! Navést schubste die Elfen grob zur Seite. Mit zitternden Händen packte sie Asrans Gesicht. Sein Puls war schwach, beinahe still. Navést schüttelte ungläubig ihren Kopf und riss das grüne Amulett an Asrans Hals ab. Ein Blick auf Ergon zeigte, dass auch er sterben würde, wenn sich Asrans Seele von dessen Körper löste.
Navést spürte das Misstrauen der Elfen, als sie das Amulett in die Hände nahm und die Augen schloss. Sie spürte die Kraft des Steins, das Magiefeld um sie herum. Ihre Lippen formten Wörte wie Schwertstiche. All ihren Zorn legte sie in die Zauber. Asran musste leben! Es gab keine andere Lösung! Sie öffnete ihre Augen und legte ihren Kopf in den Nacken. Immer noch sprach sie Zauber. Ihre Augen verdrehten sich, ihre Hände krampften. Sie spuckte die Wörter aus, ihre Stimme war rau und tief geworden. Und dann war es vorbei. Sie spürte, wie der Zauber von ihr auf Asran ging und das grüne Amulett fiel ihr aus den Händen. Sie brach zusammen und zwei Elfen griffen ihr unter die Arme, um sie zu stützen. Gebannt sahen alle Versammelten auf Asran. Nichts geschah. Jemand schrie wütende Rufe in die Stille, es wurde mit dem Finger auf Navést gezeigt. Sie wurde herumgeschubst, geschlagen.
„Seht doch, da!", schrie plötzlich eine junge Elfenfrau. Sie hatte schwarzes Haar und große, braune Augen. Sie deutete mit dem Finger auf Asran und als Navést ihrem Blick folgte, sah sie, wie sich Asrans Brust hob.
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Aristeas stockte der Atem, als er der Nachricht aus dem Sprechrohr hörte. Dieser Narr! Warum nur war Asran immer so leichtfertig mit seinem Leben! Ohne Umschweife ergriff der Druide die Zügel eines herrenlosen Pferdes. Er kämpfte mit Athavar und Obsukrin an dem östlichen Festungstor. Athavar warf ihm einen fragenden Blick zu und Aristeas gab ihm zu verstehen, dass der Menschenkönig ihm folgen sollte. Er verstand und lenkte seinen Rappen zu der Stute von Aristeas. „Was ist?", schrie Athavar gegen den Schlachtenlärm an. „Asran war in Lebensgefahr. Jetzt ist er gesund, aber auf dem Weg ins nächste Unglück!", erwiderte Aristeas und rammte der Haflingerstute die Beine in die Seiten. Athavar folgte ihm und gemeinsam trafen sie an dem westlichen Tor auf Navést. Ihr Gesicht war wie eine Maske. Undurchschaubar.
Der Tod hatte hier die Überhand. Hunderte, tausende Leichen säumten ihren Weg. Lose Fackeln lagen auf dem Boden, sie steckten Tote an. Der Geruch von Blut und verbranntem Fleisch ließ Aristeas würgen. „Wo ist Asran?", fragte er Navést und zügelte sein Pferd. Athavar lenkte seinen schwarzen Rappen neben den Zauberer. Mit schmerzvollem Gesichtsausdruck deutete Navést herauf in den Himmel. Der grüne Körper Ergons zeichnete sich deutlich vor dem Sternenhimmel ab. „Ich habe ihn geheilt. Mit dem grünen Amulett. Er ist vollkommen gesund. Seine Wunden verheilt. Ich hätte ihn nicht vollständig heilen dürfen! Er wartet dort oben auf sie!", sagte die Göttin verbittert. Aristeas beugte sich zu Navèst vor. „Wer ist sie?", fragte er und ihn überkam ein ungutes Gefühl. „Nadińe!", entgegnete Navèst und Aristeas versteifte sich.
„Wie konnte der dunkle Lord sie befreien?", raunte er und eine Gänsehaut ließ ihn erschaudern. „Ich weiß es nicht", hauchte Navèst. Schuld war in ihr Gesicht geschrieben. Aristeas kannte die Legenden, dass die Götter Nadińe nicht hatten töten können und sie so nur in einen ewigen Schlaf verbannt hatten.
Athavar nahm seine Zügel in die Hand und wendete sein Pferd. „Was ist?", fragte Aristeas und drehte sich im Sattel. „Aristeas, mein Freund, ich stehe Asran bei. Ich weiche ihm nicht von der Seite, wenn seine Stunde schlägt!", antwortete er feierlich und fügte dann etwas leiser hinzu: „Es gab noch nie einen Kampf der Drachen. Asran kann nur verlieren! Aber wenn ich tot bin, dann sollen die Menschen sagen: Athavar war jener, der bis zum letzten Atemzug für eine bessere Zukunft gekämpft hat!" Aristeas' Kehle wurde eng. Er brachte es nicht über sich, Athavars Hoffnung zunichte zu machen. Er brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, dass es keine Menschen mehr geben würde, wenn der dunkle Lord siegte.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasíaVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...