~Lyvaron~

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Lasyn hob ihren Sohn auf die Arme. Sie meinte, Asrans Züge in Lyvarons Gesicht zu erkennen. Ob er wohl jemals seinen Vater kennenlernen würde? Lasyn wusste es nicht, doch sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, um das zu erreichen. Sowohl für sich, als auch für Asran und ihren Sohn. Sie hatte abgelehnt, als Moserim ihr angeboten hatte, Lyvaron das Bogenschießen zu lehren. Ihr Sohn sollte ein Meister des Schwertes werden, nicht des Bogens. Aber nach wochenlangem Bitten Moserims hatte sie schließlich zugestimmt. Es wäre unfair, Lyvaron vorzuschreiben, was für eine Waffe er tragen sollte. Auch war sein Vater Meister des Bogens. 

Versonnen betrachtete Lasyn Lyvarons Gesicht. Er war Asran so ähnlich. Manchmal, wenn Lasyn es nicht länger ohne Asran aushielt, ging sie nachts in den Wald und blickte zu dem Mond hinauf. Irgendwo dort draußen würde Asran zu demselben Mond hinaufblicken. Ob auch er an sie dachte? Sie hatte Angst vor seiner Heimkehr. Angst davor, wie sehr er sich verändert haben würde. Wusste er, dass sie ein Kind bekommen hatte? Würde er ihn mögen können? Würde er jemals wiederkehren? 

Sie spürte, wie ihr eine einzelne Träne die Wange herablief. Sie tropfte auf Lyvarons Haar. Lasyn strich sich die Träne weg. Sie sollte nicht vor ihrem Sohn weinen! Asran würde wiederkommen! Gewiss! Leise summte sie ein Lied. Es war jenes, welches ihr Vater immer gesungen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Er konnte schön singen. Damals hatte Lasyn keine Mutter gehabt. Ihr Vater hatte das Lied selber gedichtet, für seine verstorbene Frau. Und er hatte all seinen Kummer und seine Sehnsucht in den Text gelegt:


„In dem Mond, dein Gesicht,

ein Lächeln, umrahmt von Lockenhaar,

Augen so grün wie Frühlingsfarn.

Oh Schattenkind,

das Herzen nimmt,

verbannt von hier,

still meine Gier,

wart' auf mich,

im gold'nen Licht.

Der Sonnenschein ist dein Lachen,

so hell, so schön, so wunderbar,

doch heiß, dass man sich dran verbrennt.

Oh Schattenkind,

das Herzen nimmt,

verbannt von hier,

still meine Gier,

wart' auf mich,

im gold'nen Licht."

Traurig dachte sie an all jene, die vor mehreren Wochen gestorben waren. Sie hatte jeden einzelnen von ihnen gekannt. Die Gracker hatten den Moraldwald angegriffen. Die Biester dachten wohl, dass Asran noch hier war. Aber sie waren zu spät gekommen. Und sie hatten riesige Teile des Waldes niedergetrampelt. Laurentius sagte, dass das nicht der letzte Überfall dieser Art war und Lasyn ballte in hilfloser Wut die Hände. So viele waren für Nichts gestorben! Nur für ihr Vaterland! Das war einem Krieger bewusst, dass war sein Schicksal. Aber dieser Kampf war kein Ruhm gewesen! Einzig ein unehrliches Massaker!

Ihr Sohn löste seine Umklammerung und sie ließ ihn auf den Boden. Plötzlich hörte sie ein Räuspern hinter sich und als Lasyn sich umdrehte, blickte sie in das Gesicht bärtiger Zwerge. Sie zuckte zusammen. Sie hatte vieles erwartet, das aber ganz und gar nicht. „Entschuldigt bitte. Ihr müsst Lasyn, die Gattin des Asran sein, richtig? Ich bin im Auftrag des Grimbolds, der König der Zwerge, hier", sagte der Anführer der Zwerge. Lasyn nahm ihren Sohn wieder auf die Arme. 

„Ja, ich bin Lasyn", sagte sie nach einem Augenblick des Verdutzens. Doch dann überkam sie Freude. Asran lebte! Er würde heimkommen! „Dann sind wir also richtig. Asran lagert mit seinen Gefährten bei uns. Er fragte meinen König, ob er ihm eine Streitmacht zur Verfügung stellen würde, doch im Gegenzug erwartete mein Herr, seinen Sohn zu beanspruchen. Zu oft haben uns die Elfen in die Irre gelockt. Asran hatte eingewilligt. Grimbold versprach ihm, Lyvaron unter unseren Kriegern aufzunehmen. In Lyvarons achtzehntem Lebensjahr werdet Ihr ihn wiederbekommen, ab dann gilt ein Zwerg bei uns als ausgewachsen. Wenn ich nun dürfte?", der Zwerg blickte sie fragend an.

Lasyn konnte nichts sagen. Die Freude, die gerade eben noch gekommen war, als sie die Nachricht hörte, dass Asran lebte, verebbte nun augenblicklich. Sie konnte sich nicht rühren, konnte sich nicht wehren, als Grimbolds Bote zu ihr trat und ihr Lyvaron aus den Armen nahm. „Ich danke Euch für Eure Zeit, Lasyn. Ich verspreche Euch, Euren Sohn sicher aufzuziehen", hörte sie des Zwergen Stimme, doch sie reagierte nicht. Als Lasyn endlich wieder aus ihrer Starre erwachte, waren die Zwerge verschwunden. Dann schrie sie, wie sie noch nie geschrien hatte. Heiße Tränen rannen über ihr Gesicht. Und zwischen den Schluchzern und Schreien hörte sie sich selbst mit schriller Stimme rufen: „Ich verfluche dich Asran! Du gingst, und nahmst mir nun das Einzige, was meine Sehnsucht nach dir stillt! Ich verfluche dich und hoffe, dass jene, die dir etwas bedeuten, sich gegen dich wenden und dir den Tod bringen!"

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt