~Der Drachentanz~

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Asran lehnte sich an den Hals von Ergon. Sein Drache gewann an Höhe und Asran stand auf. Das, was er jetzt machen würde, hatte er nur zweimal zuvor geübt. „Lass den Mist!", schrie Ergon, aber Asran ignorierte ihn. Er liebte das Risiko, eine weitere Eigenschaft, die so gut wie kein anderer Elf mit ihm teilte. Asran passte sich an die gleichmäßigen Hebungen und Senkungen von Ergons mächtigen Körper an. Der Elf ging in die Knie und nahm sein Schwert mit beiden Händen. Er würde mit Ergon tanzen. Er würde einen gefährlichen Tanz tanzen, einen tödlichen, der entweder vielen seiner Feinde das Leben nahm, oder aber Asran und Ergon in den Tod stürzte. Er würde den Drachentanz tanzen. 

Starb er, der Drachenreiter, so starb auch sein Reittier. Nie überlebte ein Drache, während sein Reiter begraben lag.

Der Panzer, mit dem Ergon eingekleidet war, war rutschig vom Regen, der seit einer halben Stunde auf sie einprasselte. Sollte er es wirklich wagen? Asran biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. Wenn er nichts sah, dann waren seine anderen Sinne schärfer. Deutlich hörte er die Schreie, die, etwa eine halbe Meile unter ihm, das Lied der Sterbenden sangen. Er hörte den Wind, das leise Geräusch, das entstand, wenn Regen auf Eisen prallte. Er spürte das kleine Blutrinnsal, das seinen rechten Arm hinablief. Ein Pfeil hatte ihn knapp verfehlt und hatte nur einen kleinen Kratzer zurückgelassen. Er spürte sein taubes, nasses Gesicht, in das der Wind schnitt. Pfeile schießen war bei diesem Wetter unmöglich, der Wind machte ihre Flugbahnen unberechenbar. Asran spürte sein Herz heftig schlagen, sein warmer Atem stand ihm in Wölkchen vor dem Mund. 

Vorsichtig ertastete er die sicheren Trittstellen auf Ergons langen Schwanz. Der Drache flog ganz still, sein Körper gestreckt. Nur die Flügel bewegten sich. Asran hob sein Bein an. Er kannte Ergon inzwischen so gut, dass er wusste, wann die großen Dornen auf des Drachen Rücken kamen. Mit pochendem Herzen setzte Asran den Fuß wieder ab. Das war erst einer der sieben Dornen gewesen, die Asran überwinden musste, um sein Ziel zu erreichen. Behutsam zog der Elf seinen zweiten Fuß nach und setzte ihn vor den anderen. Noch ein kleines Stück, dann musste der nächste Dorn kommen. 

So überwand der Zwergenkönig all die Dornen auf Ergons Schwanz. Erleichtert, dass nichts geschehen war, öffnete er die Augen. Das Licht der Fackeln erschien ihm unwirklich hell, ungewohnt scharf nahm er all die kämpfenden Gestalten unter ihm wahr. Es sah noch relativ gut für sie aus. Von hier oben konnte Asran fast die gesamte Stadt überblicken. Die Menschen waren im Osten aufgestellt, sie waren die Schwächsten unter ihnen. Ihre Reihen waren weit aufgefächert. Mit langen Piken hielten die Menschen dem Ansturm stand. Nur etwa zweitausend Gracker stürmen von dort auf sie ein. Die feindlichen Krieger waren aus dem Südwesten gekommen, sie würden nicht ihre gesamte Streitmacht einmal rund um Daulinien schicken, um von dort anzugreifen. Die Gracker mochten es einfach. Unkompliziert. Und sie waren nicht die hellsten Köpfe. 

Im Norden mussten die Elfen aus dem Moraldwald sein, seine Freunde! Sie waren herausragende Krieger, die Elite des Moraldwaldes bestand aus fast zweitausend Männern. Die Ausbildung zum Elitekämpfer brauchte ein Jahrhundert und weitere siebzig Jahre, um sich die Anerkennung und das grüne Schwert verdient zu haben. Das grüne Schwert war die größte Ehre, die ein Krieger im Moraldwald gewinnen konnte. Und im Westen und Süden waren weitere Elfen und die Zwerge aufgestellt. Sie würden ihre Posten halten, ganz sicher! 

Asran ließ sich auf der großen, sternförmigen Keule an Ergons Ende nieder. Er hakte seine Beine unter dem Schwanz ineinander und lehnte sich nach hinten. Er spürte, wie sich das Amulett heiß auf seinen Hals legte. Es durfte nicht verloren gehen! Er spürte, wie Ergons Unmut schwand und erneute Kampfeslust in dem Drachen aufloderte. Sie, die Drachen, waren für den Kampf erschaffen worden. Waren dazu auserkoren worden, für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie waren weise, und obwohl ein Drache auch erst vor kurzem hätte geschlüpft sein können, wusste er vielmehr, als es sein Reiter je erfahren würde. Der Geist eines Drachen reichte zurück bis zu dem Anfang der Welt. Aber die großen Himmelsgeschöpfe waren verdammt. Sie hatten zu schweigen. 

Ergon ließ sich fallen und Asran holte mit seinem Schwert aus. Inzwischen hatten sie die weiße Mauer Dauliniens überquert, waren aus der sicheren Festung geflogen und nun über dem Heer der Gracker. Ergon flog mit dem Wind, die Pfeile, die auf sie geschossen wurden, flogen wieder zurück zu denen, die sie abgeschossen hatten. 

Mit einem kraftvollen Hieb riss Asran mehreren Grackern auf einmal den Kopf ab. Blut spritzte ihm ins Gesicht und verschlechterte seine Sicht. Dennoch blieb er kopfüber an der Keule Ergons hängen und riss viele Gracker zu Boden. Ihm wurde übel und schwindelig, er konnte nicht mehr lange so durchhalten. Immer mehr Blut floss ihm in den Kopf und nahm all seine Sinne ein. Asran sah nicht mehr viel, schwarze, grelle Punkte tanzten vor seinen Augen. Mit einem Schrei schwang sich der Elf wieder aufrecht auf Ergon. Erleichtert stützte er sich auf den silbernen Eisenplättchen der Rüstung von Ergon ab. 

Ergon drehte ab und schlug heftig mit den Flügeln. Während er an Höhe gewann, glitten mehrere Schatten über sie hinweg. Asran sah auf. Zwei Drachenkörper flogen über ihn und Ergon. Einer in allen Regenbogenfarben glänzend, der andere schwarz. Schwärzer, als die dunkelste Nacht.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt