~Der Retter in der Not~

8 2 5
                                    

Scheiße.

Thorwin ärgerte sich immer und immer mehr. Woher kamen die Gracker? Sie waren wie Ameisen, wie elende Termiten. Überall waren sie anwesend, drangen aus allen Toren, aus allen Gebäuden, scheinbar auch aus allen Gullideckeln. 

Der Mensch zog gleich drei Pfeile auf die Sehne seines Bogens und schoss sie alle ab. Sie alle verfehlten ihr Ziel nicht, bohrten sich geschmeidig in die braune Haut eines Grackers und blieben dort leicht vibrierend stecken. 

Die Missgeburt drehte den Kopf und sah hasserfüllt zu Thorwin hoch, ehe sie zitternd zu Boden fiel und schließlich ganz erschlaffte.

Der rothaarige Mensch sprang von dem leichten Vorsprung der Mauer und eilte zu den wenigen Menschen, die tapfer die Stellung hielten. Woher kamen diese verdammten Gracker?!

Thorwin sprintete über den Innenhof, überall wimmerte es von ihnen. Gerade wollte er den Innenhof verlassen, als er bemerkte, wie gleich zwei Gracker aus einem Abflussrohr stiegen. 

Thorwins Augen weiteten sich. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Abflussschächte der Elfen lagen bekanntlich meterweit unter der Erde, wie konnten sie da dennoch zu ihnen gelangen?

Die Antwort lag auf der Hand: die Gracker hatten ungewöhnlich lange mit ihrem Angriff gezögert, sie brauchten nur Leitern, um zu den Schächten hinabzuklettern. Von da an war es etwas Leichtes, durch die unterirdischen Abflusssysteme nach Daulinien vorzudringen. Ganz Daulinien würde sterben, alle Frauen, Männer und Kinder. Jene Elfenkinder, die die Garantie zum Überlebem der Spitzohren beitrugen.

Der nordische Mensch ließ einige sehr unelegante Flüche seine Lippen verlassen, ehe er sein Messer zog. Mit schnellen, agressiven Hieben bahnte er sich einen Weg durch die hässlichen Gracker.

Er unterlief einen Schlag, rammte dem Bastard eine Faust in den Bauch und schlitzte ihm den Hals auf, ehe er sich umdrehte, den nächsten Hieb parierte und auch dem Besitzer dieser Klinge seinen Stahl zu kosten gab.

Schließlich kam er, schweißüberströmt und blutbesudelt, an einem der Sprachrohre an. Keuchend klammerte er sich an das Metall und wieder fluchte er. Mit zitternden Händen öffnete er den Verschluss.

„Die... die Gracker sind hier im Innenhof, sie sind durch... durch das Abwassersystem hierhergekommen", hechelte er in das Rohr. Er fühlte sich wie ein elender Köter, der auf irgendein Spiel von nervigen kleinen Buben hereingefallen war. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihm vorzugaukeln, einen Ball zu werfen, und jedes Mal sprintete er ihm hinterher.

Thorwin stöhnte erleichtert, als er die Stimme von einem anderen Krieger vernahm. „Ich richte die Information König Laurentius aus. Danke", schon war er wieder verstummt.

Thorwin aber seufzte zufrieden. Verstärkung!

Er stieß sich von dem Rohr ab und taumelte wieder zurück ins Getümmel. Man mochte ihn für wahnsinnig halten, nur mit einem Messer bewaffnet in einen Krieg zu ziehen, aber ihm war es egal. Seine Hand schnellte vor und zurück, erinnerte mit ihren ruckartigen Bewegungen an eine Schlange.

Der Mensch erkämpfte sich einen Weg weiter in die Stadt, immer tiefer drang er vor. Als er sich endlich unbeobachtet fühlte, blieb er stehen und hielt den Atem an.

Durch seinen rasenden Puls in seinen Ohren hindurch hörte er die leisen Schreie von Kindern. Er folgte ihnen wie einer Fährte und stieß die Türen der ersten Häuser auf.

Das hier war wahrlich kein Ort für kleine Elfenmädchen und Elfenjungen, er hatte sich schon gedacht, dass Vazyllanne sich nicht großartig um sie kümmern würde. Ungeduldig winkte er die ersten paar Kinder zu sich und schloss sie schützend in die Arme. Es tröstete sie wahrscheinlich nicht viel, dass auch er blutüberströmt und beängstigend aussah, aber wer scherte sich sonst um sie?

Er hatte Kinder bisher nie wirklich gemocht, aber als er jetzt in die kleinen Augen sah, erkannte er so viel Angst und Liebe, dass ihm das Herz weich wurde. 

Er trieb sie vor sich her, kommandiere sie durch kleinere Gassen, in denen nicht so viele Gracker lauern konnten. Viermal sprangen ihnen einige Missgeburten entgegen, aber sie alle tötete er gekonnt. Ihm tat es leid, den Kindern so womöglich ein für immer währendes Trauma einzujagen.

„Kommt schon!", drängte er, während er das Tor zu Vazyllannes Thronsaal aufhielt. Die irritierten Wachen warfen sich skeptische Blicke zu, aber man kannte ihn. Sein Name war unter Vazyllannes Kriegern bekannt: der Mann mit dem leuchtend roten Haar, das er sich zu Ehren seines toten Freundes abgeschnitten hatte. 

Sieben Elfenkinder rannten ihm verängstigt voraus in die großen Hallen, niemandem kam ein Wort über die Lippen. 

„Ist hier jemand?", schrie der Mensch aus Leibeskräften, immer und immer wieder. Es dauerte lange, bis sie jemanden gefunden hatten, aber schließlich trafen sie auf eine Elfe, deren schlichtes Kleid definitiv auf eine Magd schloss.

„Nimm diese Kinder und bring sie fort von hier. Das hier ist nicht mehr Daulinien, das ist keine Stadt mehr, die weiß strahlt. Nimm sie und sichere ihr Leben", befahl er mit rauer Stimme. Sein Atem ging rasselnd und die Elfe sah ihm tief in die Augen.

„Natürlich. Darf ich den Namen desjenigen wissen, der die Zukunft der Elfen gesichert hat?", fragte sie und Thorwin drehte sich um.

„Nenn mich derjenige, der alles daran tut, andere Leben zu retten, weil seines bereits von Trauer beherrscht wird", entgegnete er dann halb abgewandt, wartete keine Antwort mehr ab, sondern rannte wieder hinaus in den Krieg, um die letzten verbliebenen Kinder vor den Waffen der Gracker zu schützen.

Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt