Nachdem Asran mit den übrigen Gefährten aus dem Raum gestürmt war, begann er, Befehle zu erteilen.
„Ergreift eure Waffen!", schrie der Zwergenkönig und der Befehl wurde weitergeleitet. Die Sonne ging gerade auf, all die schlafenden Elfen, Zwerge und Menschen schreckten aus ihrem unruhigen Schlaf. Waffen klirrten, Fackeln wurden entzündet und Pferde wieherten. Asran blickte über das Lager hinweg. Tausende Krieger waren versammelt, um in die letzte Schlacht zu ziehen. Athavar reichte Asran ein Pferd, doch dieser schüttelte den Kopf. Er öffnete seinen Geist und augenblicklich verstummte der Lärm, die Aufregung schwand. Zurück blieben nur seine Gedanken. Er rief nach seinem Drachen und als der Elf die Augen öffnete, sah er einen großen, tiefgrünen Körper über den Himmel gleiten. Ergon.
Ein Lächeln entfaltete sich in Asrans Gesicht. Ergon war ein Teil von ihm geworden. Der Drache war fast sieben Schritt lang, die Spannbreite seiner Flügel beinahe neun Schritt. Seine grünen Augen glänzten stets wissend, das Licht, das sich in ihnen verfing, schimmerte in allen Grüntönen.
Mit dumpfen Flügelschlägen kam der Drache näher und grub seine Krallen tief in den Boden. Asran lehnte seinen Kopf gegen den von Ergon. Seine Hand glitt über die scheinbar feuchten Schuppen. Ergon streckte seine Brust aus. Jetzt sah man ihn in all seiner Pracht. Die großen Hörner auf seinem Kopf waren lang und ragten wie Türme in den Himmel. Sein Schuppenkleid glänzte in der Sonne und seine wuchtige Schwanzspitze zuckte.
Der Platz, auf dem sie standen, war der Innenhof Dauliniens. Von hier konnte man über die wichtigsten Gebäude hinweg die starke Festungsmauer erkennen. In Asrans Rücken standen der Thronsaal und jener Raum, in dem sich die Könige und deren Berater getroffen hatten. Die Lager der Truppen waren überall hinter den Mauern erbaut, nirgendwo konnte man hinsehen, ohne auf Zelte und Feuerstellen zu schauen. In voller Größe waren sie fast achtzehntausend. Asran tat einen Schritt Abstand zwischen ihn und Ergon.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Asran, wie Grorphil zu ihm kam. Er trug einen goldenen Schlüssel in der Hand, der an einem Lederband baumelte. Der alte Meister der Magie trug ein weites Hemd, das die Farbe von Lehm besaß. Es war in die fast schon enge, braune Hose gesteckt, die an den Hüften von einem Gürtel mit silberner Schnalle gehalten wurde. Die Schnalle war zu einem aufwendigen Drachen geschmiedet worden, dessen Auge grün glänzte. Asran trat an Grorphil und betrachtete die Schnalle gerührt.
„Ist das...?", fragte er und Grorphil nickte. „...Ergon, mein Herr", vervollständigte er Asrans Satz. Er hielt den Schlüssel hoch. „Alle Zwerge haben ihr Geld und ihre Kunstfertigkeit geopfert, damit Ihr ein Geschenk erhaltet, wie es noch kein anderer erhalten hat. Sie haben all ihre Zeit investiert, damit Eure Überlebenschance hoch bleibt", sagte er. Asran sah den Schlüssel prüfend an. Sein Kopf war aus vielen, sich windenden Schlangen gefertigt, sein Vorderteil war er schlicht gehalten. „Wenn Ihr mir folgen würdet?", fragte Grorphil und Asran nickte.
Er folgte seinem engsten Berater durch eine kleine Gasse vor ein kleines Gebäude. Es war wie die anderen Häuser von Daulinien aufwendig erbaut, Muster zeichneten sich in dem Marmor ab. „Wie hat Vazyllanne euch erlaubt, dass ihr eines ihrer Gebäude nutzen könnt?", fragte Asran und Grorphil erwiderte: „Sie hat von uns einen ausgesprochen hohen Preis erhalten."
Der Zwerg steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Mit leisem Knacken fuhren die Bolzen zurück, die die Tür verschlossen hielten. Das zwei Schritt große Tor schwang auf und ein süßlicher Geruch schlug Asran entgegen. Es roch nach feinen Kräutern und Blumen. Grorphil entzündete eine Öllampe und drehte die Flamme voll auf. Das goldene Licht schnitt in die Dunkelheit und wurde von etwas Metallischem zurückgeworfen.
Der Zwerg reichte seinem König die Lampe und Asran trat näher an das Reflektierende heran. Er konnte einen Panzer erkennen, verschiedene Teile, die merkwürdig geformt waren. Plötzlich brach Sonnenlicht in die dunkle Kammer und Asran fuhr herum. Grorphil hatte einen dunkelroten Vorhang vor großen Fenstern heruntergerissen. Buntes Glas ließ das Licht in allen Tönen erstrahlen.
Asran wandte sich wieder dem Geschenk zu und als er es erkannte, traten ihm Tränen in die Augen. Auf einem riesigen Gestell war eine Rüstung aufgehängt. Sie bestand aus verschiedenen Teilen, die alle zu einem Ganzen zusammengefügt waren. Zu dem Körper eines Drachen. Das Silber schimmerte fröhlich, grüne Smaragdsplitter zierten neben Goldstückchen das Kopfteil und den Sattel.
„Sie ist eine Maßanfertigung", sagte Grorphil und schlug der Rüstung freundschaftlich auf den Teil, der Ergons Kopf schützen würde. Asran fehlten die Worte. Überschwänglich umarmte er Grorphil. „Danke!", sagte er und brachte wieder Abstand zwischen sie: „Danke."
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Dutzende Zwerge waren versammelt, um seinen Drachen zu sehen. Asran konnte es selbst kaum erwarten. Wie würde Ergon aussehen, noch prachtvoller als er schon war? Endlich wurde der Elf auf den Platz gelassen, auf dem Ergon die Rüstung angelegt worden war. Und als er seinen Drachen sah, verging ihm das Atmen. Auf Ergons langer Schnauze lag ein flaches Stück Eisen, das mit goldenen Schlangen verziert war. Auf des Drachen Halses ruhte ein riesiges Stück Rüstung, das sämtliche Löcher hatte, durch die die Dornen an Ergons Hals stachen. Auch seine Brust und sein gesamter Rücken waren durch eine daumdicke Metallschicht geschützt. Ein lederner Sattel war darin eingelassen, Bänder und Taschen für Pfeile und Speere befestigt.
„Seid Ihr bereit, Euch Eurem Volk in all Eurer Pracht zu zeigen und somit die wenigen Sachen, womit sich die Zwerge erst nicht abfinden konnten, verblassen zu lassen?", fragte Grorphil und Asran nickte. Auch ihm wurde eine Rüstung angelegt, sie passte im Stil perfekt zu der von Ergon. Auch sie war extra für ihn gemacht worden. Asran stieg mit dem linken Fuß in den ersten Steigbügel und schwang sich dann auf Ergons Rücken. Seine gepanzerte Hand schloss sich um die Lederzügel und Ergon erhob sich. Stolz baute er sich zu seiner vollen Größe auf und Dampf trat aus seinen Nüstern.
„Ich bin bereit", sagte Asran und die Tore wurden geöffnet. Menschen, Zwerge und Elfen hatten vor den Türen gewartet. Applaus ertönte und sie knieten nieder. Alle. Die Menschen, die Elfen und die Zwerge. Niemand schien auch nur einen Gedanken daran zu verlieren, wie jung er noch war oder was seine Schwächen waren. Jeder schien ihn zu vergöttern, in ihm sahen sie die Hoffnung auf eine bessere Welt. Asrans Blick glitt über die Versammelten. Weiter hinten, im Schutz des Schattens einer Mauer, stand eine weiß gewandete Gestalt. Vazyllanne. „Was, Drachenreiter, gedenkt ihr zu tun?", fragte ein Mensch und Stille kehrte ein. Asran blickte jedem seiner engsten Freunde und Berater fest ins Antlitz, dann sagte er: „Macht euch bereit. Noch heute Mittag werden wir in den Krieg ziehen!" Aristeas nickte und als Asran den Blick Vazyllannes suchte, neigte sie ihr Haupt.
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Das fünfte Amulett (Band II der Chronik von Mittelland)
FantasyVölker, deren einstige Packte zerbrechen. Lebewesen, die sämtliche Intrigen spinnen, um zu überleben. Ein dunkler Lord, der den Krieg eines ganzen Landes ausgelöst hat. Die fünf Amulette, heutzutage sprechen sie mit Furcht über die drei Wörter. Denn...