Ich schaffte es nicht, viel zu essen. Gerade mal die Hälfte des Eintopfs schaffte ich, bevor ich mein Besteck zur Seite legte.
Verions Blick verdüsterte sich. „Kaylie, ich verstehe, dass du gerade eine verdammt schwere Zeit durch machst. Ich verstehe, dass es dich belastet und du einen Weg suchst, damit fertig zu werden, aber ich kann, als dein Berater, dein Freund und der Freund deines Manns, der auf mich vertraut, dass ich für dich da bin, nicht mehr länger zusehen, wie du dich selbst zugrunde richtest. Du weißt selbst, dass du bei weitem noch nicht so viel Sport machen solltest, wie du es tust. Und dann isst du auch noch so wenig! Denkst du etwa, ich würde nicht merken, wie dünn du schon wieder bist?"
„Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen", presste ich hervor und stand auf. „Ich bin müde, ich denke, ich gehe schlafen." Damit drehte ich mich um und lief in mein Zimmer.
Amber schminkte mich wortlos ab. Weder sie noch ich waren jemals Fans von Tonnen an Schminke gewesen, doch selbst sie brauchte viel, um die Rötungen meiner Augen zu überdecken.
Mit einem leeren Gefühl blieb ich im Türrahmen stehen, den Blick auf die ungeöffneten Briefe. Vielleicht hatte Verion Recht. Und mit diesen Briefen konnte ich den Anfang machen.
Ich ging auf den Schreibtisch zu, nahm mir den obersten Brief und den Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf.
Hallo Kaylie, mein Schatz,
Theor geht es langsam wieder besser, deswegen werde ich demnächst wieder zurückkommen. Ich freue mich schon, dich zu sehen. Ich habe dich sehr vermisst und mache mir Sorgen um dich, weil du mir nicht antwortest.
In Liebe, Ian.
Ian würde also zurückkommen. Ich sehnte mich nach ihm, und dennoch hatte ich Angst, was er von mir denken würde, wenn er mich sehen würde. Seit meiner Totgeburt war fast ein Monat vergangen, und dennoch war ich beinahe schon wieder so schlank wie vor der Geburt. Er würde es bemerken.
Ich legte alles zurück und ging ins Bett, um mich, wie jeden Abend, in den Schlaf zu weinen, in dem ich von Alpträumen meines toten Kindes gequält wurde.
„Kaylie, Ian wird in etwa einer Stunde ankommen. Möchtest du ihn begrüßen?"
Ich schaute Amber kurz überrascht an. Sie hatte in den letzten Tagen nicht mehr mit mir geredet, nachdem sie eingesehen hatte, dass es nichts brachte.
„Ja", antwortete ich knapp.
Zögernd stapfte ich über die Wiese, die durch den mittlerweile fast vollständig geschmolzenen Schnee ziemlich matschig war.
Ich beobachtete die schwarze Kutsche, die wenige Meter entfernt anhielt. Der Kutscher sprang ab und öffnete die Tür. Als Ian heraustrat und mich freudig anstrahlte, musste ich lächeln. Zum ersten Mal seit Wochen. Doch mein Lächeln verblasste, als mir klar wurde, dass er sich wahrscheinlich auch auf sein Kind freute. Schnell zog ich meine Jacke stärker um mich, um meine Figur zu überspielen.
Er kam auf mich zu und umarmte mich. Ich schlang meine Arme um ihn und drückte ihn fest an mich.
„Ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich dachte, du wärest krank, im Koma oder so, weil du nicht geantwortet hast", murmelte er und strich mir über die Haare.
„Ich habe dich vermisst", hauchte ich.
Langsam lösten wir uns voneinander. „Wo ist es?", fragte er, und lächelte und vorfreudig und unwissend. „Wo ist unser Kind?"
„Ich zeige es dir." Ich nahm seine Hand und drehte mich weg, damit er meine aufkommenden Tränen nicht sah.
Doch irgendwann merkte er, dass wir den Weg zum Friedhof gingen.
„Kaylie?" Ich hörte die ganzen aufkommenden Gefühle, die er aus seiner Stimme zu verbannen versuchte. „Warum gehen wir zum Friedhof?"
Ich antwortete nicht, sondern führte ihn zu einem kleinen Grabstein aus schwarzem Marmor, der von goldenen Linien durchzogen war.
Elias Ferion.
03.02.2019 – 03.02.2019Ich wandte den Blick ab. Es tat zu sehr weh.
„Oh Gott", war alles, was Ian hervorbrachte.
Ich konnte nicht anders, und schloss ihn in meine Arme. Ich lehnte mein Gesicht gegen seine Brust, er zog mich zu sich und vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Ein Schluchzen entkam meiner Kehle, und ich spürte, wie seine Tränen schmerzhaft heiß über meine Haut rannen. Irgendwann sackten wir zusammen, und knieten eng umschlungen vor dem Grab unseres totgeborenen Sohnes, der nie das Leben hatte kennenlernen dürfen, den wir nie hatten aufwachsen sehen und sich verlieben können. Dem das Leben genommen wurde, bevor er überhaupt wusste, was es war.
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Das Zweite Königreich - Kaylie
FantasyAlle Rechte der Geschichte liegen bei mir Das Titelbild und alle weiteren eventuellen Bilder sind lizenzfreie Bilder aus Pexels/Pixabay -------- Einige Teile von Traditionen, den Leben am Königshof usw. habe ich geändert, weil es mir anders besser g...