Müde lehnte ich meinen Kopf gegen Ians Schulter. Seine Familie war vor etwa einer halben Stunde abgereist.
„Ist alles okay?", fragte er leise und legte einen Arm um mich.
„Ja, ich bin nur ein wenig müde." Mit geschlossenen Augen atmete ich den angenehmen Geruch von Büchern ein, der in der Bibliothek in der Luft lag.
„Wenn ich etwas für dich tun kann, sag es mir.", flüsterte er und küsste mich leicht auf den Scheitel.
Ich nickte, lächelte und genoss das Gefühl, in seinem Arm zu liegen.
Viel zu früh schob er mich sanft von sich. „Denk daran, wir wollten eigentlich uns um die aufgelaufenen Briefe kümmern."
Ich nickte und folgte ihm in sein Arbeitszimmer. Es war lichtdurchflutet mit einem Blick auf den Innenhof. Die zur Seite gebundenen Vorhänge waren golden, ebenso wie die Verzierungen und Kerzenhalter. Der Tisch, die Regale und restlichen Möbel waren in einem massiven, hellen Holz gehalten.
Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben Ian. Er öffnete nacheinander alle Briefe, erzählte mir von den darin beschriebenen Problemen oder sonstigen Themen, oder etwas über die Absender. Bald schon schwirrte mein Kopf vor Namen und Orten, die ich mir nur mit Mühe würde merken können.
Gerade nahm er einen weißen, rauen Umschlag vom Stapel, der an den Ecken verziert war. Geübt schnitt er mit einem Brieföffner den Umschlag auf und zog den Brief hervor.
„Was ist das?", fragte ich.
„Eine Einladung zu einem Ball.", stellte Ian fest. „Vom Hof Ceria. Sie wollen dir zu Ehren einen Ball geben, immerhin war deine Mutter eine Prinzessin Cerias. Du warst 21 Jahre lang verschwunden und wurdest für tot erklärt."
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ein Ball? Und dann auch noch zu meinen Ehren? Mann Kaylie, du bist die zukünftige Königin, reiß dich zusammen. Mit größter Sicherheit würde ich noch eine Menge Bälle erleben.
„Wann?", fragte ich.
„In einem Monat.", antwortete er.
„Wie sind diese Bälle so?", fragte ich zögerlich.
Er seufzte. „Viele hübsche Kleider. Viel Geschwätz und viel falsche Freundlichkeit, aber auch Spaß und gute Musik. Und genug Süßspeisen, um die Diät von 50 Leuten zu beenden." Er schmunzelte.
Nachdenklich sah ich ihn an. „Irgendwie bezweifle ich, dass sie den Ball wirklich so aufrichtig mir zu Ehren geben, wie sie meinen."
Sein Lächeln verschwand. Er nickte betrübt. „Leider muss ich dir zustimmen. Wahrscheinlich veranstalten sie ihn nur, um dich kennenzulernen und sich eventuell mit dir gut zu stellen, weil du die zukünftige Königin bist."
Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. „Ich gehe kurz an die frische Luft."
Ian nickte. „Soll ich mitkommen?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nötig."
Ich schob den Stuhl nach hinten und ging raus. Am Ausgang zum Schlosspark hängten sich zwei Wachen in diskreten Abstand an mich ran, aber ich spürte ihre Anwesenheit dennoch. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keine Jacke dabeihatte. Fröstelnd schlang ich die Arme umeinander und ging langsam durch den Schnee. Meine Krönung würde erst nach der Hochzeit stattfinden. Noch war ich keine Königin, ich hatte noch Zeit, mich an alles zu gewöhnen, noch war ich keine Königin, wiederholte ich beständig in Gedanken, wie ein Mantra, um mich zu beruhigen.
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Das Zweite Königreich - Kaylie
FantasyAlle Rechte der Geschichte liegen bei mir Das Titelbild und alle weiteren eventuellen Bilder sind lizenzfreie Bilder aus Pexels/Pixabay -------- Einige Teile von Traditionen, den Leben am Königshof usw. habe ich geändert, weil es mir anders besser g...