Kapitel 11

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In den nächsten drei Wochen trainierten Ian und ich fast jeden Tag. Die Verhandlungsgespräche zogen sich immer endloser hin, was auch zum Großteil der Tatsache verschuldet war, dass König Aran nicht mehr regelmäßig zum Essen erschien.

„Das ist eine seine Arten der Machtdemonstration.", erklärte Ian mir einmal. „Er zeigt, dass wir hier Gäste auf seinem Territorium sind und er sich nicht dazu verpflichtet fühlt, uns diesen Respekt zu erweisen. Oder er möchte uns damit zeigen, dass es ihm nicht gefällt, dass wir uns so oft treffen."

Verion verbrachte die meiste seiner Zeit in der Bibliothek und verschlang die Bücher förmlich. Er besaß eine unglaubliche Aufnahmefähigkeit an Wissen. Außerhalb der Trainings- und Essenzeiten verbrachten Ian und ich viel Zeit miteinander. Es war zwar anstrengend, immer darauf achten zu müssen, dass niemand einen sah, wenn wir uns küssten, aber es spielte keine so große Rolle, wie ich anfangs befürchtet hatte. Die Zeit verflog immer schneller und die Ereignisse wurden zum Alltag.

„Noch einmal." Ian lehnte sich gegen die Wand.

Ich atmete ein, konzentrierte mich und schleuderte mit einer Handbewegung den Holzball gegen die Wand, fing ihn telekinetisch auf und ließ ihn in meine Hand fliegen.

„Ich kann nicht mehr." Ich ließ mich in den nächstbesten Stuhl versinken. Ian schob einen Teller mit Keksen zu mir rüber.

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass du überall Essen mitnimmst?", fragte ich, während ich mir einen mit Schokolade nahm.

„Da du kein Hungergefühl hast und auch beim Essen so gut wie nichts zu dir nimmst, musste ich eben kreativ werden." Er lachte. „Magie verbraucht viel Energie. Und ich muss dir noch etwas sagen?"

„Ja?", fragte ich und aß den Keks auf.

„Ich reise morgen ab.", sagte er.

„Aber...die Verhandlungen sind doch noch gar nicht abgeschlossen..." Ich versuchte, mit diesem Argument zu verdecken, dass ich nicht wollte, dass er ging, weil ich mir nicht vorstellen konnte, ohne ihn zu sein.

„Keine Sorge, ich bin nur für zwei Tage weg." Er kam auf mich zu. „Ich reise morgen früh ab und komme übermorgen am Abend zurück."

Ich atmete erleichtert auf. Liebevoll fuhr ich die Kontur seiner Wangenknochen nach. „Dann bin ich ja beruhigt.


Am nächsten Morgen stand ich etwas früher auf, als sonst, um mich von Ian verabschieden zu können. Ich hatte mir gerade erst das veilchenblaue Kleid angezogen, als er schon anklopfte.

Ich öffnete die Tür und ließ ihn eintreten.

„Ich wollte mich nur noch kurz von dir verabschieden.", meinte er und legte seine Hand in meinen Nacken.

„Ich könnte dich mit nach unten begleiten. Dann hätten wir noch ein paar Minuten mehr.", flüsterte ich.

„Nein.", widersprach er zärtlich. „Dort könnte ich dich nicht zum Abschied küssen."

Als sich unsere Lippen berührten, hatte ich wieder das Bedürfnis, meine Arme um seinen Hals zu schlingen und mich ganz dicht an ihn zu drücken, aber ich traute mich nicht. Verflucht sei meine Schüchternheit!

Langsam trennten sich unsere Lippen voneinander.

„Und du willst mich wirklich mit König Aran allein lassen?", fragte ich scherzhaft.

„Verion ist noch bei dir." Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und trat zurück. „Bis morgen."

Ich nickte und lächelte. „Bis morgen."


Ich sah ihn von meinem Fenster aus zu, wie er auf sein Pferd stieg. Er trug einen langen, hochgeschlossenen Mantel, der ihm vor dem Wind des beginnenden Winters schützte.

Warum ritt er, wenn er auch mit der Kutsche reisen konnte? Ich hatte ihn nicht einmal gefragt, wo er hinreisen würde. Mann, war ich dumm!

Ich legte meine Stirn in Falten und trat von Fenster zurück. Aber ich konnte ja immer noch Verion fragen. A propose Verion. Ich musste jetzt losgehen, wenn ich rechtzeitig zum Frühstück kommen wollte.


Aran saß mies gelaunt schauend am Tisch und machte sich irgendwelche Notizen, was mich aber nicht störte. Wahrscheinlich überlegte er eine Lösung für die Probleme im Westen. Dort hatte es vergangene Woche schon die ersten heftigen Schneefälle gegeben, auf die niemand vorbereitet gewesen war. Verion saß schon am Tisch und war gerade dabei, einen Apfel zu essen.

Ich nahm Platz und angelte mir eine kleine Schale mit Nüssen.

„Wow, sieh einer an, sie isst freiwillig etwas!", spottete Verion gut gelaunt.

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Weißt du eigentlich, wohin Ian reist?"

„Nein. Ich dachte, du wüsstest es."

„Du bist sein engster Vertrauter."

„Du bist die, die mit ihm rumknutscht.", entgegnete er eiskalt.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du magst mich nicht."

Verion lachte. „Und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist empfindlich."


Nach dem Mittagessen trainierte ich. Ich hatte mir einen Parkour aus Tassen und anderen Gegenständen auf dem Tisch und dem Boden aufgebaut und ließ stundenlang eine oder mehrere Kugeln hindurchfliegen, aber ohne Ian war das Üben langweilig.

Als es endlich Zeit fürs Mittagessen war, freute ich mich sogar. König Aran ließ sich mal wieder nicht blicken, allerdings vermisste ich ihn nicht.

Ich setzte mich hin und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Verion beachtete ich kaum. In Gedanken überlegte ich, wie lange es wohl dauerte, bis Ian zurückkehren mochte.

„Kaylie? Hörst du mir zu?" Verion wackelte mir mit einem sauberen Löffel vor der Nase herum.

„Ja, was ist?"

„Das" Er betonte das Wort. „ist ein Löffel."

„Ich weiß durchaus, was ein Löffel ist." Ich musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Damit kann man beispielsweise Suppe essen." Er hielt mir den Löffel mit einem bedeutungsschweren Blick auf meinen unangetasteten Teller hin.

Als ich nicht reagierte, meinte er mit einem scherzhaften Unterton: „Es ist nicht König Aran, vor dem du dich fürchten musst, wenn Ian nicht da ist."

Ich rollte mit den Augen und nahm den Löffel entgegen.

„Sehr gut. Und jetzt einen Löffel für den linken Arm..." Er beobachtete mich belustigt.

„Hör auf. So kann ich nicht essen!", beschwerte ich mich. „Wie lange willst du das eigentlich noch durchziehen?"

„So lange, bis ich nicht mehr fürchte, mich an deinen Schultergelenken zu stechen.", entgegnete er ungerührt.

Ich warf ihm einen genervten Blick zu, konnte ihm aber nicht wirklich böse sein.

Das Zweite Königreich - KaylieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt