Der Wandschrank

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Das Kissen sauste mit hoher Geschwindigkeit hinab und traf Jonah mitten ins Gesicht.
Er wurde aus seinen Träumen gerissen und war sofort hellwach.
"Beeilung, du Schlafmütze. Gleich ist es
soweit", sagte Karl fröhlich und sprang durch ihr Zimmer.
So ein Mist! Ich hab doch nicht ernsthaft verschlafen?!, dachte Jonah und rieb sich die Augen.
Tatsächlich. Es war schon kurz vor acht Uhr.
Im Turbomodus schlüpfte er in seine Hose und knöpfte das Hemd zu.
Wie sollte er denn jetzt noch ungesehen aus dem Haus entkommen?
Jonah versuchte sich zu beruhigen.
Die Familien waren bestimmt schon da, es war inmerhin nun schon nach acht Uhr. Hauptausgang: Fehlanzeige.
Das Fenster war auch keine Möglichkeit, da Karl und Jonah im 3. Stock wohnten.

"Ach du meine Güte! Wir haben schon längst acht Uhr!! Ich bin zu spät, was macht das denn bitte für einen Eindruck?!", Karl sauste wie ein Irrer durch das Zimmer, während er sich dabei noch die Haare kämmte.
Er wollte gerade die Tür öffnen, als Jonah ihn zurückhielt:
"Karl, warte mal kurz!", begann er.
Karl blieb stehen und schaute ihn erwartend an.
"Falls Frau Derens fragt, wo ich sei, sag bitte, dass ich ein wenig später nachkomme, ok?".
"Geht klar, mein Freund. Wünsch mir Glück!", antwortete Karl und flitzte den Flur entlang zur Treppe.
Jonah schloss die Zimmertür und gleich danach auch die Augen. Er brauchte einen Plan und zwar dringend!

Die Tür knarrte leise, als Jonah sie öffnete.
Er verzog das Gesicht.
Mist, bitte lass das niemanden gehört haben!, dachte er sich.
Nach einem kurzen Zögern, in dem er keine Schritte oder ähnliches gehört hatte, blickte er vorsichtig nach links und rechts.
Niemand war zu sehen.
Jonah rannte so leise wie möglich zur Treppe, blieb dort aber vorerst stehen.
Er konnte viele verschiedene Stimmen wahrnehmen und Frau Derens Stimme natürlich auch. Sollte er seinen Plan bei so vielen Leuten wirklich durchziehen?
Doch was war das?
Wurde Frau Derens' Stimme etwa lauter oder bildete Jonah sich das jetzt nur ein.
Zur Sicherheit wagte er einen Blick über das Treppengeländer und bekam einen Schreck, als er die unverkennbaren Haare von Frau Derens sah.

"Ich werde ihn mal eben holen. Bin sofort wieder da!", rief sie jemandem zu.
Jonah blickte sich in Panik hektisch in alle möglichen Fluchtrichtungen um.
Sein Zimmer? Nein, da würde Frau Derens ihn zuerst suchen.
Ein anderes Zimmer? Auch nicht, sie würde das Klopfen hören und bis jemand öffnete wäre es eh zu spät gewesen.
'Aber wo dann?, fragte er sich und überlegte fieberhaft, während er unbewusst die Schritte der Leiterin wahrnahm.
Der Wandschrank!

Als Jonah ungefähr 11 Jahre alt gewesen war, hatte er das Waisenhaus gerne genau unter die Lupe genommen und hatte somit eines Tages den Wandschrank entdeckt.
Von außen war er praktisch unsichtbar und benutzt wurde er seit einer Ewigkeit auch nicht mehr. Ein perfektes Versteck also.
Jonah blickte in Richtung des Wandschrankes. Wo war aber der Schlüssel?
Egal, ist jetzt nicht so wichtig, sagte seine innere Stimme.
"Doch was ist wenn er abgeschlossen ist?".
Er steckte deshlab seinen kleinen Finger so schnell wie möglich in die Schlüsselvorrichtung, um die Schranktür auch ohne Schlüssel öffnen zu können. Es funktionierte. Der Schrank war offen.
Rasch kletterte er hinein, zog die Tür ran und wollte sie gerade schließen, als er sie um die Ecke kommen sah.

Jonah zog die Hand zurück und hielt den Atem an.
Frau Derens kam näher, fixierte jedoch nur Tür nummer 308, Jonahs Zimmer.
Ohne zu klopfen riss sie die Zimmertür auf und suchte jedes Detail nach ihm ab.
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit erkannte, dass Jonah nicht mehr im Zimmer war, ging sie rasch zurück zur Treppe, nur einen halben Meter entfernt von Jonah vorbei, der sich immer noch mucksmäuschenstill im Wandschrank versteckte.
Glück gehabt, dachte er sich und wollte schon aufatmen, als Frau Derens kurz vor der Treppe plötzlich stehen blieb. Sie blickte in seine Richtung.
Jonah stockte der Atmen.
Sie kam wieder züruck, diesmal jedoch direkt auf den Wandschrank zu!

Jonah schloss die Augen. Jetzt war es zu spät.
Sie würde ihn finden, nach unten zu den Familien zerren und versuchen, ihn somit ein für alle mal aus ihrem Waisenhaus zu bekommen.
Plötzlich ertönte ein lautes Klicken direkt neben Jonah und er öffnete aus Reflex die Augen.
Doch alles war dunkel.
Jonah konnte nichts mehr sehen.

"Ich hasse offene Türen!", hörte er Frau Derens noch sagen, als er verstand, dass sie gar nicht zurückkam, weil sie ihn entdeckt hatte, sondern nur um die Tür des Wandschrankes zu schließen!
Jonah stieß deshalb ein kurzes, erleichterndes Lachen aus, worauf er sich sofort den Mund zuhielt, um keine weiteren Geräusche zu verursachen.
Doch Frau Derens hatte wohl nichts bemerkt, denn diesmal hörte Jonah sie wirklich die Treppe hinabsteigen.

Agent J8 - the mysterious womanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt