19. Kapitel

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Am nächsten Morgen fühlte ich mich immer noch wie auf Wolken. Nach dem Aufwachen streckte ich mich und blieb erst noch etwas liegen. Schon wieder stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben und in der Blase von gestern weiter träumen. Doch dann fiel mir ein, dass ich so keine Gelegenheit bekommen würde, Kilian wieder zu sehen. Das war Motivation genug, um doch aufzustehen.

Im Bad überlegte ich, ob ich mich etwas schminken sollte. Die Idee verwarf ich schnell wieder, weil das einzige, was zur Verfügung stand, Iris gehörte. Was war nur los mit mir? Ich konnte nur den Kopf über mich schütteln. Scheinbar schwärmte ich für Kilian. Oder besser gesagt: ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ich erschrak, als mir das bewusst wurde. Das wollte ich doch nicht. Aber Liebe entwickelte sich doch nicht so schnell, oder? Bestimmt ist das nur die emotionale Achterbahnfahrt, dass ich das gleich für Liebe halte. Es war in letzter Zeit einfach zu viel - das Abitur, die Flucht aus dem Haus und dann der Kuss gestern. Ich war immer noch rational genug, um meine Entscheidungen zu treffen, unabhängig von einem jungen Mann mit wunderschönen, schokoladenbraunen Augen. Wobei, wenn Kilian interessiert war die Beziehung zu vertiefen, wäre ich nicht abgeneigt. Ich errötete bei den Gedanken – vor ein paar Wochen waren das nur Träumereien. Aber es war eindeutig Zeit, dass ich mal wieder etwas Glück hatte. Und das wollte ich auskosten, so lange ich konnte.

Zum Frühstück schwebte ich fast. Als ich den Raum betrat, sah ich mich sofort nach kastanienbraunen Haar um. Doch ich entdeckte nur Iris, die mich zu sich winkte. Zögernd setzte ich mich zu ihr, nachdem ich mir etwas zum Frühstücken genommen hatte. Dabei versuchte ich mich so zu setzen, dass ich möglichst viel vom Raum im Blick hatte.

„Hallo?" Iris versuchte mit der Hand vor meinen Augen meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Fragend sah ich sie an. „Ich sagte, dass sich sonntags Kilian, Mike und Adrian immer mit anderen treffen und deshalb nicht hier sind." „Oh" erwiderte ich nur. Mein Lächeln verkrampfte sich deutlich. Warum hatte er mir das gestern nicht gesagt? Sofort rief ich meine Gedanken zur Ordnung. Warum sollte er mir das sagen? Es war ja nicht so, als ob wir eine Beziehung hatten oder sogar verpaart waren. Wir hatten gerade einmal ein Date. Das mir nicht mehr aus dem Kopf ging, aber trotzdem kein Grund für Eifersucht ist. Jeder hat immer noch sein eigenes Leben - und genau so sollte es meiner Meinung nach auch sein.

„Jetzt reicht's!" rief Iris. Ich schreckte hoch und sah sie an. Ich bemerkte, dass ich seit 10 Minuten nur in meinem Teller rumgestochert und nichts gegessen hatte. „Du wirst heute mit uns einen Spieletag machen!" befahl sie. Ich sah meine Zimmerkollegin mit großen Augen an. Spielen? Meine letzte Runde Mensch ärgere dich nicht war schon eine Weile her.

Doch es stellte sich heraus, dass sie etwas anderes im Sinn hatte. Es fing mit ein paar Runden Tischtennis an. Dann ging es weiter mit Volleyball. Es war ein riesiger Spaß - wenn auch etwas sandig. Nach dem Duschen trafen wir uns im Hobbyraum. Dort gab es ein „Siedler von Catan" Turnier. Das Spiel kannte ich bisher noch nicht. Doch nach einer Weile kam ich immer mehr rein. Ich feilschte um jeden Rohstoff – und immerhin wurde ich nicht letzte. Das machte mich schon etwas stolz.

Abends kochten wir gemeinsam. Iris hatte ihr Ziel auf jeden Fall erreicht: Statt mir Gedanken zu machen, warum Kilian mir nichts gesagt hatte, musste ich auf Bälle aufpassen oder die beste Spieltaktik herausfinden. Ein paar der Mädels waren zwar immer noch distanziert, aber ich war optimistisch, dass sie das noch ändern würde. Einen wirklichen Grund hatten sie meiner Meinung nach nicht.

Den Abend ließen wir mit Wein ausklingen. Dabei versuchte mich Iris davon zu überzeugen, dass man nächstes Wochenende unbedingt aufs Stadtfest gehen musste. Doch ich war mir da nicht so sicher. Vielleicht, wenn ich mit Kilian hingehen könnte? Sofort ärgerte ich mich über mich selbst – ich wollte meine Entscheidung nicht von jemand anderen abhängig machen. Schon gar nicht von einem Mann, den ich kaum kannte.

***

Die nächste Woche verlief ähnlich wie die davor. Ich arbeitete im Garten, kochte und entschloss mich doch noch Applikationen auf mein Kleid für den Abschlussball zu nähen. Damit war ich unter tags ganz gut beschäftigt. Und ich hielt meine Gehirn davon ab, sich zu viel Gedanken über einen gewissen jungen Mann zu machen.

Kilian sah ich nur sporadisch. Immer schlich sich ein Lächeln in mein Gesicht, wenn wir uns begegneten. Er hatte immer ein paar nette, aber eher belanglose Worte für mich. Beim Essen saßen wir auch nicht beieinander. Insgesamt verhielt er sich höflich-distanziert, ohne dass ich mir das erklären konnte. Meistens aß er mit Mike und Adrian zusammen und machte keine Anstalten, sich zu mir zu setzen. Er war mir keine Rechenschaft schuldig, aber nach dem letzten Wochenende hatte ich mit mehr Gesprächen gerechnet. Ich hatte immer noch so viele Fragen, doch Kilian war nie für mich greifbar. Fast kam es mir so vor, als hätte ich den Samstag und die Nähe zu Kilian nur geträumt.

Eines Abends wollte ich Iris unauffällig über ihren Bruder auszufragen. So viel Mühe hätte ich mir nicht geben müssen, sie durchschaute meine Absicht sofort „er hat aktuell viel um die Ohren" versuchte sie Kilian zu entschuldigen. Ich bohrte weiter – vielleicht bekam ich jetzt endlich ein paar Antworten. Zögernd erklärte meine Zimmerkollegin „es gibt noch mehr so – Zusammenschlüsse wie wir es sind in der Stadt. Da gibt es immer wieder Spannungen und Sachen zu klären. Gerade sind zwei sich nicht ganz grün und Kilian versucht zwischen den Parteien zu vermitteln." Ich wurde immer verwirrter. Es gab noch mehr solche Häuser? Und sie waren verfeindet? Ich fühlte mich fast wie in Romeo und Julia. Immerhin hatte ich jetzt eine Erklärung für meinen Kopf, der sich damit etwas beruhigen ließ. Etwas weiter unten sah das schon anders aus - da schmerzte es eindeutig immer noch.

Von Wölfen beschütztWo Geschichten leben. Entdecke jetzt