𝐕𝐈𝐈𝐈

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𝐇

»Du weißt, dass ich dir sagen müsste, dass du es nicht tun sollst.« Liam strahlte in der goldenen Ehrlichkeit seines Herzens. Lügen würden seinen Geist sprengen, auf dieselbe Weise, in welcher der Himmel von meiner Existenz abhängig war. Unsterblichkeit bedeutete nicht Unverletzlichkeit. Er sah ernst aus.

Ich musterte die Spannung seiner Augenbrauen. »Aber ich möchte es.« Meine Pflichten und die Bedeutung meiner Anwesenheit waren mir bewusst, aber ich hatte Regen gesehen und Louis war so menschlich gewesen. Er hatte mich angesprochen, als wäre ich ein Erdenbewohner wie er.

»Das weiß ich. Deswegen will ich es dir nicht ausreden müssen.« Er benutzte seinen Körper nicht gerne, aber jetzt streckte er seine Hand in meine Richtung aus.

»Außerdem gewöhne ich mich langsam an die Erdatmosphäre. Es ist schon so viel einfacher.«

Liam lächelte amüsiert, seine Gedanken wurden wärmer. »Beim ersten Mal wärst du schon nach nicht mal vier Minuten fast in deinem Körper zusammengebrochen.«

»Das war aber nicht die Erde!«, verteidigte ich mich in dem Wissen, dass es nur die halbe Wahrheit war. »Es war Louis.« Ich tippte mir in dem Rhythmus des schlagenden Menschenherzens mit einem einzelnen Zeigerfinger, ba-bumm, ba-bumm, ba-bumm, auf die Brust. »Und ist das nicht für jeden Engel so?«

Es dauerte fast sieben Sekunden, bis Liam antwortete. »Mein erstes Mal Erde war noch bevor ich durch mein Band erstmals Schutzengel wurde.«

Ich starrte ihn an. Ich hatte Zugang zu allem Wissen in der Welt, aber über meinen Mentor wusste ich nicht mal die grundlegendsten Dinge? »Du warst schon vorher auf der Erde?!«

Jetzt streckte er seine Hände weit genug aus, um mit sanften Fingerspitzen die Haut meines Halses zu berühren. »Alle Engel, Hara. Alle außer dir. Und denen vor dir.«

Es gab Lasten und es gab Unterschiede, aber Sinnlosigkeit war ungerechtfertigt. »Alle Engel außer mir sind auf der Erde, bevor sie ihrem ersten Menschen begegnen?! Wieso?«

»Du weißt es.« Liam war so ruhig, dass es war, als würden seine Finger nicht meinen Hals berühren, sondern mein Herz umschließen. »Das erste Mal Erde ist zu viel. Es ist ein zu großes Risiko, um es mit der Last eines neugeborenen Menschenbabys zu kombinieren. Zu gefährlich für das Kind. Und den Engel.«

»Aber wieso war es bei mir dann anders?« Die zweite Frage sprach ich nicht aus, aber ich wusste, dass Liam sie in meinen Augen lesen konnte. Wieso wurde Louis in Gefahr gebracht?

Liam nickte, weil er verstand. »Aus genau dem Grund, aus dem ich dir jetzt davon abraten sollte, schon heute auf die Erde zurückzukehren. Du darfst nicht zu viel Zeit dort verbringen. Und mit weniger als hundert Jahren warst du noch zu schwach, um grundlos dich und alle anderen in Gefahr zu bringen. Ja, Louis war in größerer Gefahr als alle anderen Kinder, aber das war das kleinere Übel, das für dich wie auch für den Rest deiner Familie in Kauf genommen werden musste.«

Familie war keine Lüge, nur ein Fantasiewort und so konnte es Liams Lippen passieren. Gerne wäre ich auf ihn und die himmlische Geschichte wütend gewesen, aber so funktionierte es nicht. Selbst wenn mehr als Louis' Leben riskiert worden war.

Aber ich wusste gut genug, dass Liam keinen einzigen Vorwurf verdiente. »Du wirst mich auf die Erde lassen?«, fragte ich, auch wenn ich die Antwort kannte. Und er mich letztendlich sowieso nicht aufhalten konnte.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt