𝐗𝐕

147 20 61
                                    

𝐋 ⋆

Die Karte war laminiert, obwohl sie nichts bis auf schwarze Buchstaben einer albernen Computerschrift und dünnes weißes Kopierpapier vorzuweisen hatte. Aus irgendeinem Grund hielt Harry sie mit Fingern fest, die aussahen, als hätten sie noch nie etwas festgehalten. Vielleicht war sein innerer Sinn für künstlerische Ästhetik so erschüttert von der lieblos gestalteten Café-Karte, dass er den physischen Kontakt mit ihr minimieren wollte.
Fast hätte ich diese Gedanken laut ausgesprochen, aber ich realisierte rechtzeitig, dass ich wahrscheinlich kein hübscheres Menü hätte designen können. Nicht mein Recht auf Spott.

»Es ist nicht die größte Auswahl jemals, aber ich bin hungrig.«, erklärte ich, während ich die Rückseite – war das andere eine Vorderseite? — zu ungeduldig überflog. Kartoffel-Porree-Suppe, Mulligatawny, London Particular. »Ich bin zu hungrig für Suppe.«, sprach ich meine Gedanken laut aus, übersprang den Rest der Suppen. Die volle Wahrheit war eine tief verankerte Abneigung gegenüber Suppen, aber sollte Harry darauf ähnlich reagieren wie Zayn, musste ich mich ja nicht gleich blamieren. »Bist du hungrig?«, fragte ich in der Hoffnung auf eine Antwort und realisierte zu spät, dass die Wiederholung desselben Wortes dreimal in Folge nur bedeuten konnte, dass ich jetzt uns beide darauf hingewiesen hatte, dass die Situation etwas unangenehm war. »›Hungrig‹«, schob ich mit einem etwas nervösen Lachen hinterher. »Ich wiederhole mich. Das ist mein Magen, der da spricht.«

Harry sah von seiner Karte auf. Vorsichtig legte er sie auf dem Tisch ab. »Dein Magen kann nicht sprechen.«

Ich lachte wieder, auch wenn Harrys Humor noch nicht ganz meinen Nerv traf. Aber was spielte das in diesem Moment schon für eine Rolle? Ich musste mich stark zusammenreißen, das Gesicht mit den vollen Lippen und wachen Augen nicht im gleichen Zustand wie vor nur drei Tagen zu sehen – der Kräfte beraubt durch Mojitos mit billigem weißen Rum und zwei schlafarmen Nächten. Auch wenn es verlockend war, sollte ich mir die nur Millimeter über der Tischplatte schwebenden Finger nicht verflochten mit meinen vorstellen. Wieso sah seine Haut so weich aus?

»Käse-Brunnenkresse-Sandwich«, traf ich meine Entscheidung und zwang meinen Blick zurück aufs Papier. »Und noch etwas zu trinken. Ich weiß nicht, ob du es schon gesehen hast – die Getränke sind auf der anderen Seite, glaube ich; ja, hier – jedenfalls haben sie eine wirklich gute Auswahl hier. Für ein billiges Studentencafé im Chemiegebäude.« Ich streckte meine Hand aus und drehte über den metallenen Serviettenhalter hinweg seine laminierte Karte auf dem Tisch um. Erst als mir wieder die Kartoffel-Porree-Suppe entgegen lächelte, verstand ich. Schnell drehte ich die Karte zurück. »Du warst schon auf der richtigen Seite! Oops. Tut mir leid.«

Entschuldigend lächelte ich und als Harry nichts dazu zu sagen zu haben schien, richtete ich meinen Blick abermals zurück auf die kleingedruckte Schrift, als wüsste ich nicht schon, was ich nehmen würde. Ich brauchte ein Gesprächsthema. Sonst würde die Stille uns in den Knochen kribbeln. Oder empfand Harry sie als angenehm? Würde es ihn stören, wenn ich mit dem Reden begann? Nein, das konnte nicht sein. Man ging nicht mit einem Quasi-Fremden in ein Café, um sich dann anzuschweigen. Es waren nur irrationale soziale Ängste, die gerade wieder anfingen, in meinem Kopf Haken zu schlagen. Er hatte gesagt, dass er mich kennenlernen wollte. Mit seinen eigenen Stimmbändern. Ich durfte nicht anzweifeln, was ich unmöglich falsch gedeutet hatte.

Harry war neu in Manchester. Er wollte Anschluss finden, Freunde. Sicher war ich der coole Literaturstudent aus dem dritten Semester, der wie ein vertrauenswürdiges Versprechen für einen bodenständigen sozialen Umkreis wirkte. Ganz eindeutig.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt