𝐗𝐈𝐕

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𝐇

Heute musste Louis mich glücklicherweise nicht wie letzte Woche über die Erde bringen, denn wir waren nie darunter gewesen. Stattdessen fanden seine Augen, dann Füße eine niedrige Bank, zu der er mich über den halbvollen Flur hinweg führte. Er lächelte mit seinen gesunden Zähnen, als wir uns beide gesetzt hatten. Mit ruhigen Händen schob Louis die Tasche, die er vorher auf seinem Rücken getragen hatte, zwischen seine Beine. Ich wollte derjenige sein, der etwas sagte. Nur Reden lehrte Reden.
Also öffnete ich den Mund, um ihm zu symbolisieren, dass ich etwas sagen würde.

Nur runzelte er wie zu häufig die Stirn. Feine Linien in seiner jungen Haut. »Alles gut, Harry?«

Ich versuchte, nicht zu enttäuscht zu sein. Er war schneller gewesen als ich. »Ja.«

»Ja?« Louis strich den Ärmel seines Pullovers über seinem Handgelenk glatt. »Das ist schön. Wie war deine Woche?«

Durch Magie und Luft hindurch tastete ich mich zu Louis' Atem durch, um ihn zu kopieren. Meine Woche?
Ich hatte Louis nach seiner Abwesenheit am Samstag fünf Tage gegeben, in denen ich mich zurückgezogen hatte. In der Zwischenzeit war ich nur Himmelsaufgaben nachgegangen und hatte Liam über einige Dinge ausgefragt. Er war noch immer nicht begeistert von der Zeit, die ich so gebündelt auf der Erde verbrachte. Aber meistens dauerte es nur einige Minuten, bis seine Fassade weit genug fiel, dass er mir zeigte, wie neugierig er wegen jeder winzigen Erfahrung war.

So gerne hätte ich ihn heute bei mir gehabt. Oder an einem anderen Tag. Liam hätte Louis kennenlernen können. Was Louis wohl gesagt hätte..? ›Hallo Harry, du hast einen Begleiter mitgebracht! Was ist sein Name? Es ist nicht wichtig, denn ich denke mir sowieso einen eigenen aus.‹ Vielleicht hätte er Liam sogar wiedererkannt; das menschliche Gedächtnis spielte nicht immer nach seinen eigenen Regeln. Irgendwo dort in Louis' hübschem Kopf verbarg sich Liams Gesicht.

Aber was war eine akzeptable Antwort auf seine Frage? Ich sah ihn an und improvisierte. Louis hatte auch kein Skript. »Gut.«

Louis' Augenbrauen zuckten, dann lächelte er. »Das hört sich doch...gut an..? Ist es nicht so stressig?«

Stress und Geduld waren etwas wie ein Widerspruch, also schüttelte ich den Kopf. »Nein.« Meine Finger waren schwer auf der kleinen Bank. Ich versuchte, mich für eine der Fragen zu entscheiden, die ich Louis stellen wollte, aber wieder kam er mir zuvor.

»Sei froh. Genieß es. Der Stress kommt noch, keine Sorge.«

Weil ich ihm die Wahrheit nicht erklären konnte, nickte ich. »Ist es stressig für dich, Louis?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ja. Nein. Ein bisschen. Aber es wird definitiv noch schlimmer werden, deswegen will ich mich noch nicht aufregen.«

Ich sah ihn ernst an. »Stress ist ungesund.«

Louis nickte. Sein Blick wanderte über die nackte Wand gegenüber von uns. »Ja. Aber weißt du, was ich manchmal denke? Wenn Stress so belastend für den Körper – und natürlich die Psyche – ist, dann haben wir einfach keine Chance in unserer Gesellschaft. Oder nicht? Denkst du, wir fordern die Evolution heraus? Und wenn ja, ist das etwas Gutes?«

»Die Evolution?«

»Mhm. Also, dass wir sie herausfordern. Ist es wie ein Softwareupdate des Menschen? Weißt du, was ich meine? Zwingen wir die Evolution dazu, uns besser und stärker zu machen? Also natürlich nicht dich und mich. So schnell geht es nicht, schon klar. Aber Evolution ist sowieso etwas Beängstigendes, oder? Ihr Mittel ist der Tod und alles, aber- warte. Ich rede zu viel. Ich bin ein winziges Bisschen nervös. Das kann dann schnell passieren. Reden. Tut mir leid, Harry.«

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