𝐗𝐗𝐈

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Nach drei Wochen ›Richard III‹ fühlte es sich mittlerweile wie ein persönlicher Angriff auf meinen Literaturgeschmack an, Shakespeare weiterhin zu betreten. Ich hatte nicht mal Zayn, mit dem ich mein Leid teilen konnte.

Also nutzte ich die besudelte Zeit im Seminarraum, um auf das Dokument meines Konzeptentwurfes zu starren, das mittlerweile immerhin schon Name, Datum, Kurs und Matrikelnummer trug. Nach einer halben Stunde gab ich meinen Anspruch zur gezwungenen Erschaffung wahrer Kunst auf und nutzte meine eingerosteten Französischkenntnisse aus der Schule, um einen Konzeptentwurf zu einem semibekannten Gedicht von Paul Valéry 1:1 zu kopieren, übersetzt. Perfekt, Aufgabe erledigt.

Nach dem Kurs schrieb ich Edeline Fernsby, einer Theater-und-Englische-Literatur-Studentin, die direkten Zugang zum Kostümarchiv der Theaterfakultät hatte. Sie hatte mich bereits mit dem beigen Anzug ausgestattet, aber für den letzten Feinschliff fehlte mir noch eine Fensterglasbrille. An Tagen wie heute war ein Kontakt wie Edeline viel wert. Sie musste eine Menge zu tun haben. Ihre Antwort orderte mich noch nach meinem letzten Kurs zu den Archiven. Sehr gut. Das sollte also alles soweit funktionieren.

Mit einem Buch in der Hand schlenderte ich in Richtung meiner nächsten Pflichtveranstaltung. Ich hatte nur 15 Minuten Pause, aber das war genug. Auf dem Weg fand ich eine freie Bank und ließ mich nieder. Während die linke Hand zwischen den Buchseiten nach dem versunkenen Lesezeichen suchte, beförderte die andere eine verschlossene Metallbox aus meinem Rucksack zum Vorschein. Ich benötigte beide Hände, um sie zu öffnen. Mit einem Zahnstocher begann ich, die mundgerechten Stückchen kalter Lasagne zu essen. Ein bisschen ekelhaft, aber besser als Magengrummeln in Text und Theorie.

›The Goldfinch‹, kaum eine Woche alt; ich hatte es am Tag der Erstveröffentlichung gekauft und in vier Tagen – mehr Nächten als Tagen – durchgelesen. Ein weiterer Grund für mein aktuelles Nachzügeln mit allen Uniaufgaben. Das erste Buch seit langem, das ich direkt nochmal las. Danach konnte Zayn es sich ausleihen. Aus einer kleinen Tasche kramte ich einen Bleistift, um eine Zeile zu unterstreichen, die ich beim ersten Lesen weiß gelassen hatte. In 21 Jahren hatte ich längst gelernt, ablenkende Geräusche um mich herum auszublenden, wenn ich las.

Deswegen zuckte ich zusammen und wollte kurz an Einbildung festhalten, als ich meinen Namen hörte.

»Hallo Louis!«

Natürlich, nichts ahnend in seinem Erscheinen wie immer, war es Harry. Nur, dass ich ihn heute zum ersten Mal strahlen sah, Mund bis Augen. Ich zwang mich zum Ausatmen. Zayns Worte krempelten immer noch mein Inneres um. ›Sehr, sehr guter Sex.‹ Aber wenn ich Harry so lächeln sah, hell und glücklich wie die Sonne, sehnte ich mich vielleicht nach noch einem kleinen Bisschen mehr als nur sehr, sehr gutem Sex.

Mühevoll orderte ich meine Gedanken zur Disziplin. Es konnte doch nicht sein, dass mein Verstand und verräterisches Blut nicht in der Lage waren, sich zusammenzureißen.

Ich schuldete uns beiden Selbstbeherrschung und lächelte zurück – was, wie sich herausstellte, gar nicht so schwer war, mit den tiefen Grübchen weich in meinem Blickfeld.

»Harry, hi.«, begrüßte ich ihn endlich und schob den metallenen Deckel zurück auf die Box. Irgendwie schien es falsch, etwas Fett- und Tomatensaucenhaltiges in der Präsenz von Harrys schneeweißem Kleid atmen zu lassen.

Es fühlte sich an wie ein erstes Mal, als Harry sich unaufgefordert neben mir auf die Bank setzte. Ich wusste nicht, was unpassender war; in sein hübsches Gesicht zu starren oder es zu vermeiden.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt