𝐗𝐗𝐗𝐕𝐈

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☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾

Der Wecker dröhnte von meinem Kopf bis in die Zehenspitzen. Bevor mir irgendetwas anderes bewusst wurde, wusste ich, dass ich zu müde war. Was mir als nächstes einfiel, war Harry. Als ich blind mein Handy zum Schweigen brachte und mit enormer Kontrolle und Qual auf den Boden meiner Zimmermitte hinunter blinzelte, stellte ich überrascht fest, dass Harry dort nicht lag. Zuerst war es die Illusion eines Traums – auch wenn ich nicht klar sagen konnte, was genau der Traum war; dass Harry nicht dort lag oder dass er je dort gelegen hatte.

Aber die Matratze und das Bettzeug mit Harrys Abdrücken verriet mir auch das. Harry war schon aufgestanden. Zum ersten Mal, seit er hier war, hatte er sich getraut, vor mir aufzustehen. Ich war nicht aufgewacht. Er musste schon im Bad sein. Das alles war ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte das Gespräch letzte Nacht wirklich etwas bewirkt. Einen Vorhang zwischen uns gelüftet. Ich drehte mich zurück auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kissen. Bis Harry aus dem Bad kam, konnte ich noch ein bisschen schlummern.

Mit geschlossenen Augen und gespitzten Ohren döste ich eine Weile vor mich hin. Zu spät realisierte ich meine Naivität. Sofort schlüpfte ich aus dem Bett, auch wenn meine Muskeln protestierten. Meine Füße waren schwach und weich und zu warm für den kalten Boden, die Küche war verlassen. Als ich vor der geschlossenen Badtür stand, zögerte ich doch. Aber es war albern. Sanft klopfte ich gegen das helle Holz der Tür. »Harry?«

Keine Antwort. Trotzdem klopfte ich zur Sicherheit nochmal, bevor ich meine Hand behutsam auf die Klinke legte. »Achtung, Harry, ich komme rein!« Es war nur fair, immerhin schloss er die Tür nie ab. War ja klar, dass uns das früher oder später zum Verhängnis wurde.

Die Klinke gab sanft nach und ich wünschte, ich wäre überrascht gewesen, als das Bad gähnend leer vor mir ruhte. Harry war nicht mehr hier. Er war nicht mehr hier gewesen, als ich aufgewacht war. Das Gespräch von gestern hatte einen Vorhang gelüftet. Aber so hatten wir das Geheimnis gelüftet, das wir jetzt nicht mehr verbergen konnten. Es gab nichts mehr, das uns verband. Harry hatte mich aus Vorsicht angelogen und ich hatte ihm nicht den Raum gegeben, sich am
selbstgewählten Zeitpunkt zu erklären. Der Kreislauf unserer Beziehung. Wir näherten uns an, bis ich alles wieder kaputt machte. War ich ein unausweichlich schlechter Mensch? Auch mit größter Mühe egoistisch und ignorant? Niemals aus meinen Fehlern lernend?

Was auch immer ich war; ich war müde. Von zu wenig Schlaf und der Gnadenlosigkeit meiner Fähigkeit, Harry wieder und wieder und wieder von mir zu stoßen. Meine Augen klebten noch ein bisschen und kein Muskel in meinem Körper wollte sich bewegen. Ich konnte mich nochmal hinlegen, ein bisschen länger schlafen, meinen Kurs schwänzen und damit meinen einzigen Fehltermin wahrnehmen. Zayn im Stich lassen.

Ich durfte nicht. Zayns Tag würde anstrengend genug werden und er musste selbst die letzten Veranstaltungen wegen seiner Arbeit ausfallen lassen. Ich konnte ihn nicht alleine den hitzigen Diskussionen über unser ›Angels in America‹ Projekt ausliefern. Ich hatte keine Wahl.

Frustriert rieb ich meine sturen Augen mit den Handballen. Dann marschierte ich direkt ins Bad. Es gab ja kein Problem mehr mit dem Umziehen. Ich war alleine in der Wohnung.

»Schau mal, Louis. Da vorne. Zwischen den Birken. Da hat es heute Morgen gestanden. Ganz ruhig, mit großen, runden Augen.« Sie streckte den Arm aus, als könnten ihre Finger sich lösen und davonfliegen, zu dem grauenden Ort, der in den Morgenstunden in der Sonne gelegen haben musste. Ein Reh war irgendwo durch den Zaun geschlüpft. Ich war mir ziemlich sicher, dass es mittlerweile kein einziges Tier gab, das unbemerkt das Grundstück betrat. Die Vögel, Säugetiere klein bis groß; meine Mum sah sie alle. Zu ihrem vorletzten Geburtstag hatte ich ihr ein Vogelbestimmungsbuch geschenkt – schnell war sie zur Expertin geworden.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt