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Es war Freitag, was gleich eine Reihe von Dingen bedeutete.

Das Wochenende war nah. Erstmal war das natürlich gut. Ich würde mir keine kompletten zwei Tage Freizeit leisten können, aber zumindest ein bisschen Zeit zum Durchatmen freihalten. Das ›A Doll's House‹-Essay würde ich beenden müssen, da hatte ich nicht wirklich eine große Wahl. Drei Seiten noch, und dann der komplizierteste Teil; alles überarbeiten und eventuelle Logiklücken schließen.

Dann würden Zayn und ich vielleicht noch ein bisschen an der ›Angels in America‹-Sache arbeiten, wenn wir es auf die Reihe kriegten. Das Buch, zumindest den ersten Teil, hatte ich gestern – zum wiederholten Male – beendet, was hieß, dass der zweite Teil und die Verfilmung des Theaterstücks als nächstes an der Reihe waren. Es wäre gut, wenn Zayn und ich bis Montag auf einen Konsens gekommen wären, der zuließ, dass wir uns mit dem Rest unserer Projektgruppe zusammenschalteten.

Sonntag fiel für diese Planung allerdings erstmal aus dem Zeitfenster, weil Zayn sich schon vormittags mit Niall verabredet hatte. Mein bester Freund hatte sich nicht davon beeindrucken lassen, als ich ihm erklärt hatte, dass Sonntags-Dates quasi die Vorstufe einer Verlobung waren.

Samstagabend sollte ebenfalls entfallen. Im Grove würde die letzte der Jahresbeginn-Partys stattfinden. Normalerweise konnte ich gut auf einen Großteil der Campuspartys verzichten, aber ich hatte schon zweieindreiviertel der insgesamt vier Jahresbeginn-Partys für dieses Semester verpasst. Und bis auf die Jahresabschluss-Partys waren das die besten. Noch war niemand deprimiert genug – selbst mit Rekord-Alkoholspiegel – sich über die Kursaufgaben oder Prüfungen aufzuregen. Außerdem konnte man gut Menschen kennenlernen. Solche Möglichkeiten waren für Menschen wie mich manchmal ganz praktisch, denn auf Partys, auf denen niemand sich kannte, war es weniger seltsam, mit Fremden zu reden.

Und, auch wenn das nicht so sein sollte, machte das, was Zayn da mit Niall am Laufen hatte, mich ein wenig eifersüchtig. Nein, nicht eifersüchtig. Sehnsüchtig. Es war zu lange her, dass ich jemanden geküsst hatte. Der Sommer war lang und anstrengend gewesen, und Zayns freundschaftliche Berührungen waren nicht unbedingt das, was ich mir jetzt wünschte. Es war Zeit für jemanden, der mein Herz wieder ein bisschen höher schlagen ließ. Wenn auch nur für eine Nacht.
Es war mir egal, wie sehr ich meine Hausarbeiten damit sabotierte; ich würde wenigstens versuchen, meine Wohnung morgen Abend zu verlassen.

Und dann war da noch heute Nachmittag. Ob Freitagnachmittage schon zum Wochenende gehörten, mochte zwar umstritten sein, aber jeder, der es nicht so sah, hatte ganz einfach Unrecht. Heute war jedenfalls so verplant wie der Rest meines Wochenendes.

Jetzt musste ich nur noch darauf warten, dass wir aus Mittelalterliche Metamorphosen entlassen werden würden, damit ich mich auf den Weg zu meiner Mum machen konnte. Ich hatte sie am Montag gesehen, aber weil ich morgen und übermorgen nicht genügend Zeit haben würde, sie zu besuchen, musste ich das unbedingt heute tun. Zwar wäre sie mir niemals böse, wenn ich es nicht zweimal wöchentlich schaffen würde, aber ich könnte das unmöglich mit meinem Gewissen vereinbaren. Wenn ich schon in der zweiten Woche des Semesters Ausnahmen machen müsste, wäre das eine beschämende Kapitulation. Außerdem würde ich Mums Chancen auf Manchester vielleicht endgültig verbauen. Auch wenn diese Dinge nirgendwo offiziell niedergeschrieben standen, waren meine Besuche ein entscheidender Faktor.

Dass mir diese Überlegungen einen entscheidenden Teil meiner Konzentration auf den eigentlichen Kursstoff raubten, wurde mir bewusst, als mein Blick zur großen Leinwand im Seminarraum wanderte und das stichpunktbepackte Bild verschwand – ohne, dass ich ein einziges Wort übernommen hatte. Jetzt prangte dort nur noch ein weißes Rechteck; das Ende der Präsentation. Die Diskussionsrunde hatte begonnen. Schnell senkte ich den Kopf, um der Integration zu entgehen.

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