𝐗𝐋𝐈𝐈𝐈

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☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾

Erst Samstag, dann Sonntag und jetzt Dienstag. Drei Albträume in vier Nächten. Es war gut, dass ich heute einen späten Start hatte, denn auch wenn ich nach dem Traum der Nacht wieder in einen zittrigen Schlaf gefallen war, fühlte ich mich morgens wie der ekligste Mensch der Welt. Getrockneter Angstschweiß klebte zwischen meiner Haut und der Bettdecke und ich hätte mich am liebsten übergeben.

Drei Albträume in vier Tagen. Das war, ganz ohne Übertreibung, eine schreckliche Bilanz. Eine Bilanz, wie sie vielleicht nicht vorgekommen war, solange ich zurückdenken konnte.

Als ich mich aus dem in den letzten Tagen zu häufig frisch bezogenen Bett schälte und ohne Kleidung direkt ins Bad taumelte, wollte ich nur mit einer einzigen Person reden, in ihren Armen liegen. Aber meine Mum war die letzte, der ich diese Sorgen jetzt auferlegen durfte.

Das Wasser brauchte zu lange, um warm zu werden. Mit jedem steigenden Grad wurde meine Gänsehaut weiter. Ich starrte auf die erschütterten Haare meines Unterarms hinab, wissend, was mein schlafendes Bewusstsein mit diesem Arm getan hatte. Endlich konnte ich mich unter den lauwarmen Strahl stellen.

Ich hatte lange gebraucht, um gestern einzuschlafen, aber eigentlich war es ein Wunder, dass ich überhaupt eingeschlafen war. Nicht, dass der Schlaf erholsam gewesen wäre. Nasse Strähnen fielen mir in die Stirn, klebten wie vorhin noch durch Schweiß. Ich strich sie glatt nach hinten und griff nach meinem Shampoo. Wie sollte ich heute in die Uni gehen? Wie sollte ich dort sitzen, mir etwas über Dramen und Modernismus anhören und so tun, als wäre alles, wie es gestern noch gewesen war?

Ich war so alleine aufgewacht, wie Harry mich gestern gelassen hatte. Mein Puls hatte sich inzwischen beruhigt, ich konnte das Kribbeln meiner Muskeln nicht mehr wiedererwecken, ausgehend von Harrys Händen, keiner von uns den Boden berührend. Aber alles andere war da. In meinem Kopf, vor meinen Augen.

Shampootränen liefen über meine Wangen. Schutzengel. Ich hatte einen Schutzengel. Harry war mein Schutzengel. Wozu hatte ich einen Schutzengel, wenn er mich nicht von dem qualvollen Brennen von Shampoo in den Augen schützte?

»Harry«, sagte ich leise, gegen das Wasser. »Shampoo!«

Wozu hatte ich einen Schutzengel, wenn er mich verließ?

»Har-ry«, sagte ich lauter, zog die Silben lang. Vielleicht war er ja hier. Vielleicht hatte er mit den Fingern geschnipst, war unsichtbar geworden und lachte amüsiert auf der Waschmaschine, während er mich beim Duschen beobachtete. Vielleicht waren noch ein paar andere Engel im Raum. Gott. Vielleicht war Gott hier und lachte über Tränen, die nichts als chemisch sein durften.

Ich glaubte definitiv nicht an Gott.

Engel?

Ja. Wahrscheinlich. Hatte ich eine andere Wahl? Es war enttäuschend, dass sie weder Heiligenschein noch Flügel hatten; was machte sie dann noch zu Engeln? Aber womöglich war genau das der Irrtum. Engel hatten keine Flügel, keinen goldenen Kreis aus Licht über ihrem Kopf. Engel logen und logen, tanzten auf deiner Naivität, bis ihnen zu schwindelig wurde, um sich noch an ihre eigenen Regeln zu halten. Sie plapperten Wahrheiten aus und als Strafe für ihre Fehler wurdest du bestraft. Auf Nimmerwiedersehen.

Ich vermisste Harry. Es war wahrscheinlich pathetisch und Teil einer Lüge an mich selbst, aber es war auch wahr. Ich war verwirrt genug, um unsinnigere Dinge als das zu empfinden. Ja, in mir schlummerte immer noch eine Menge Unglauben, der sich wie dicker Nebel mit meinen Erinnerungen vermischte; Harry, wie er ›Der Himmel‹ und ›Gott‹ und ›Wenn ich will, dann suche ich nach dir‹ sagte. Wie er meine Handflächen mit seinen stützte und die Schwerkraft abschaltete. Wie er verschwunden war wie der Lichtkegel eines Bühnenscheinwerfers. Es schien keine andere plausible Erklärung für diese Dinge zu geben als genau die Worte, die Harry gestern benutzt hatte. Und neben Skepsis und der Selbsterhaltungsstrrategie, all diese Theorien von mir zu schieben, blieb mir vor allem ein Gefühl. Neugier.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt