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Frühling auf der Erde war eines der schönsten Dinge, die ich je gesehen hatte. Louis in knielanger Hose, mit aufgeregt roten Wangen und Gräsersamen im dunkelblonden Haar.

Liam hatte recht gehabt. Ein Krankenhaus war der einfachste und schwierigste Ort für das erste Mal Erde gewesen. All das Desinfektionsmittel und die laute Stille und die geballte Ansammlung an Menschlichkeit von Erregern und Leben und Tod, welche die Luft fast feucht gemacht hatten. Es war so viel für mich gewesen.

Aber das war noch lange nichts im Vergleich zu draußen.

Frühling war wunderschöner Terror. Die Erde summte, die Sonne strahlte. Alles war lebendig. Louis lief und sprang, weil seine Beine es gelernt hatten, und nannte das Essen auf dem Boden ›Picknick‹. Er war vier Jahre, vier Monate und zwei Tage alt.

Es war mein zweites Mal auf der Erde. Die 23 Minuten und 57, 58, 59 Sekunden, die ich schon hier war, hatten die erschütterndsten der Erdenlasten in etwas verwandelt, das ich geschafft hatte, als Umwelt und nicht als Qual meiner Sinne wahrzunehmen.

Seit den wenigen Minuten im Krankenhaus war ich nicht zurückgekehrt. Der Himmel war ein geschäftiger Ort. Louis war unter meiner Haut und das reichte aus. Innerhalb der letzten 4 Jahre hatte sein Leben ihn mit seinen akuten Gefahren verschont. Leichte Erkältungen hatten seinen Körper heimgesucht, aber Liam hatte mich beruhigt, bevor ich eingreifen konnte. ›Stärkung des Immunsystems‹. Dann war da das Mal gewesen, als Troy – der Mann mit den großen Händen; Louis' Vater – vergessen hatte, die Bremsen des Kinderwagens zu betätigen, aber er war schnell genug gewesen, um ihn daran zu hindern, auf die Straße zu rollen. Dabei hatte ich ein bisschen meine Finger im Spiel gehabt, aber Liam hatte gewollt, dass ich die Kontrolle unseres Bandes vom Himmel aus zu beeinflussen lernte. Als Baby hatte Louis sich manchmal verschluckt, aber Johannah war immer zur Stelle gewesen. Und als Louis auf den Tag genau dreieinhalb Jahre alt gewesen war, bekam er ›Keuchhusten‹ – Liam –, der meinen Oberkörper zu sprengen scheinen wollte, als ich mich für ein paar Minuten darauf einließ.

Den Rest der Zeit war Louis gewachsen, gewachsen, gewachsen und von einem Schlaf in den nächsten gefallen. Ich mit ihm.

Erst vor ein paar Wochen hatte das alarmierende Kribbeln, das sich anfühlte wie winzige Blitze, die in meinen menschlichen Körper einschlugen, wann immer Louis' flinkem Körper eine Gefahr drohte, sich häufiger gezeigt. Er lernte Fahrradfahren.

Liam hatte gesagt, seit mindestens 40 Jahren lernte fast jedes Kind in Europa Fahrradfahren und dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Nur 0,0000375% aller Kinder auf der Erde verloren, während sie lernten, die kleinen Metallräder unter ihren Körpern zu bewegen, ihr Leben. ›Was ist, wenn Louis zu den 0,0000375 Prozent gehört?‹ ›Dann wirst du es rechtzeitig spüren.‹ ›Vielleicht ist es besser, wenn ich bei ihm bin. Auf der Erde. Vielleicht braucht er meine Hilfe.‹ ›Nein, Hara.‹

Es hatte exakt 86 Stunden Überredungskunst gebraucht, um Liam vom Gegenteil zu überzeugen. 103 Stunden und 17 Minuten mehr, bis er bereit war, mich alleine gehen zu lassen. 0 Stunden, 0 Minuten, 0 Sekunden, um ihm klarzumachen, dass ich nicht unsichtbar sein wollte.

Denn das hatte ich ihm nicht erzählt.

Aber alles war gut. Die Menschen hatten mich in ihrer gewählten Blindheit auch nach den zwanzig Minuten noch nicht bemerkt. Und selbst wenn sie mich entdecken würden, hätten sie sicher keinen zweiten Gedanken für mich übrig. An die Flügel hatte ich gedacht. Das war's. Ich war einer von ihnen.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt