𝐗𝐗𝐗𝐈𝐕

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𝐋 ⋆

Harry saß auf der obersten Treppenstufe und zu ihm hinaufzusteigen, war, wie eine verlorene, mächtige Version meinerselbst wiederzufinden. Der Alkoholspiegel in meinem Blut verschwamm wie mein Bewusstsein für die Stufen unter meinen Füßen. Harry lächelte, obwohl ich zu spät war. Meine Handrücken waren nackt und verletzlich im alt-gelben Flurlicht des Treppenhauses, aber Harry schaffte es, auch um diese Uhrzeit frisch auszusehen. Und als wäre ich nicht viel zu spät.

»Hallo Louis!«, flog mir seine muntere Begrüßung entgegen. Die Schallplatte mit dem ewigen Hänger. Er war ein Wunder; Lügner höchsten Grades und zugleich ehrlich hilfsbedürftig. Ich konnte nur falsch handeln.

»Hey!« Sah er mir mein neuerworbenes Wissen an? Dass einer seiner vorgetäuschten Kommilitonen ihn mit ein bisschen Recherche ausgeliefert hatte? »Bist du schon lange hier?« Es gab ein schlechtes Gewissen, irgendwo zwischen meinen Augen und Ohren, aber Alkohol und Ungerechtigkeit relativierten es nicht ineffektiv.

»Nein.«, versicherte er, aber auch als ich wartete, spezifizierte er nicht, und es war ein ziemlich eindeutiges ›Ja‹. Es war kurz vor halb eins, ich hatte unten bei meinem Fahrrad noch nachgesehen.

Nein, Ja. Ja, Nein. So war das mit den Lügnern.

»Tut mir leid, dass ich ein bisschen spät bin. Wir haben irgendwie die Zeit vergessen und...« und ich wollte mich nicht mit dieser Situation konfrontiert sehen und mich lieber betrinken. »Tut mir leid.« Ich konnte selbst hören, wie unaufrichtig es klang und war nicht sicher, wie unaufrichtig es wirklich war. Wenn ich den Abend nochmal starten würde; wären Niall, Zayn und Alkohol wieder meine Wahl über Konfrontation mit Harry und meiner Naivität?

Zu einfach. Die Antwort war Ja.

Nicht meine Entscheidungen taten mir leid. Harry tat mir leid.

»Naja, komm rein.« Ich schob mich an ihm vorbei, streifte sein Knie mit meiner Wade. Der Schlüssel traf das Schloss viermal im falschen Winkel, bevor ich ihn schließlich doch erfolgreich darin versenkte und mit doppeltem Klicken die Tür öffnete. Harry kam in flüssiger Bewegung auf die Füße, als ich schon das Licht eingeschaltet hatte und die Schuhe von den Füßen trat. Die Schritte konnte er ja sowieso auslassen.

Mein Blut strömte warm. Ich hatte mehr als den billigen Wein darin versenkt. Und ich wusste, dass diese Stufe zwischen angetrunken und voll betrunken meine Zunge auf eine Weise lockerte, die ich erst Minuten bis Stunden später begriff und verarbeitete. Aber ich würde mich ganz einfach nicht übernehmen. Und vielleicht wäre es gar nicht schlecht. Harry verknotete seine Zunge so sehr, dass er mir lieber Lügen als die Wahrheit erzählte. Vielleicht würden wir uns so ganz gut ergänzen.

Ich streifte meine Jacke von den Armen. Sie war dünn und hielt zahmen Regen gerade so ab. Auch wenn ich es herauszögern wollte, würde sie bald einer dickeren weichen müssen. »Wie war dein Tag, Harry?« Nicht Stunden, nicht mal Minuten brauchte ich, um diese Frage als auffällig zu erkennen.

Harry sah auf. Vielleicht war die Frage allein noch keine Vernachlässigung meiner Regeln, dafür aber der Fakt, dass ich sie nicht sofort zurückgezogen hatte. Mein Mund schmeckte metallisch, nach Anspannung, oder säuernder Erinnerung des Weins. »Gut.«, antwortete er, sich im Gegensatz zu mir an alle Regeln haltend.

Ich wollte lachen und wahrscheinlich sah er es mir an. Ha ha Harry. Guter Tag, gutes Leben. Belügen kann ich mich selber. Hab ich auch getan. Mehr als einen Monat lang. Lachen über mich selbst. Lachen über all die Lügen und die Grauen dieser Welt. Darüber, dass ich Harry für seine Unehrlichkeit hassen wollte; dass er log, während ich ihn bei mir wohnen ließ – obwohl er in einer unglaublich verletzlichen Situation war, von der ich nichts wusste und in der er wahrscheinlich mehr als in jeder anderen das Recht hatte, mir direkt ins Gesicht zu lügen.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt