𝐗𝐋𝐈

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☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾

Als Harry gesagt hatte: ›Erlaube mir meine Unergründlichkeit.‹, hatte er da diesen Moment gemeint? Als er gesagt hatte: ›Keine Fragen von dir an mich zu mir.‹, hatte er sich da auf diese Situation bezogen?

Mich zu überraschen, schien eines von Harrys Haupttalenten zu sein, aber mit seiner Rückkehr heute Abend hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich hatte seine Flucht akzeptiert, wie jede vorherige, den Boden vom zerbrochenen Glas gereinigt, aufgewühlt und verwirrt Zayns Aufsatz weitergelesen. In der Antwortmail hatte ich Zayn ein paar Notizen und eine Version mit berichtigten Tippfehlern geschickt, aber mit der eingeräumten Information, dass mir die volle Konzentration zu ernsthafter Verarbeitung gefehlt hatte.

Und jetzt war Harry zurück, einfach so. Seine Kargheit an Worten half nicht, Verständnis zu schaffen, aber er hatte sich so entschlossen wie gestern hier hingesetzt, bevor er seine Liste an Regeln diktiert hatte. Hoffentlich war sein Schreck wegen des Glases vorbei und hoffentlich hatte er begriffen, dass seine heftige Reaktion darauf mich auch verloren zurückgelassen hatte.

Noch fühlte ich mich allerdings, als würde ich auf einem gewaltig großen – und wichtigen – Schlauch stehen. Als ich nur ein fragendes Wort hervorbrachte, fühlte ich mich wie Harry. »Wissensgrenze?«

Ich hatte mit Harry schon so einige Wissensgrenzen überschritten, ungefähr wöchentlich malte er ein völlig neues Bild von sich selbst, alle vorherigen Fakten revidierend. Harry war niemand und trotzdem war er diffizil und allein durch solche Gedanken bewies ich mal wieder, dass ich hier eigentlich das Problem war. Welche Wissensgrenze hatte ich heute überschritten? Und wie einseitig sah die Zusammenarbeit aus, von der Harry sprach? Welche Einschränkungen würde er mir jetzt auferlegen?

»Ja. Es ist mein Fehler und...das konntest du nicht wissen, aber ja, es gibt diese Grenzen, und du...du, Louis, solltest sie nicht überschreiten.«, sagte Harry, mit Händen auf seinen Beinen. Die grünen Augen waren glasig und der Anblick fühlte sich vertraut an. »Hättest sie nicht überschreiten sollen, dem Plan nach, aber das war meine Verantwortung. Es war nie vorgesehen, dass ich herkomme und erst recht nicht, dass ich mich dir zeige, definitiv nicht so früh... Es ist meine Schuld. Und...es tut mir leid, ich sage es direkt am Anfang, jetzt, damit du keine hoffnungslosen Erwartungen aufbauen kannst; ich kann es dir nicht mehr nehmen. Das musst du mir verzeihen und du wirst es mir den Rest deines hoffentlich langen Lebens verzeihen müssen.«

Es musste der lange Tag in der Bibliothek sein oder die sechs Seiten von Zayns komplexem Essay oder Harrys blasses Gesicht Millisekunden vor einem fallenden Glas, das immer noch auf meine Netzhaut gebrannt war; ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Jeder Teilsatz kreiste bedeutungslos zwischen meinen Schädelwänden umher, bis er ohne jegliche Nachhaltigkeit vom nächsten ersetzt wurde. Es war wie Müdigkeit in einer Vorlesung. Vielleicht sollte ich einfach lächeln und nicken. Interessiert aussehen. Redete Harry noch davon, wie ich ihn hintergangen hatte, um herauszufinden, dass er gar nicht studierte?

Aber wofür sollte ich ihm verzeihen? Da musste irgendein Dreher in der Logik sein. Meinte er das Glas, das er zerbrochen hatte? Wissensgrenze? Worüber redeten wir? Worüber redete er?

»Es gibt nichts zu verzeihen.«, entschied ich mich, ihm zu versichern, denn worüber auch immer er redete; das war wahr.

Etwas in Harrys Gesicht zuckte. »Dafür fehlt dir der gesamte Überblick, die Einordnung.«

Ich wollte ihn schütteln und darum bitten, mir das Gesamtbild zu geben, wenn es mir fehlte, aber ich wusste, dass ich keine Fragen stellen durfte. Aber auch in dem vollen Bewusstsein, dass ich die meisten Dinge über Harry nicht wusste, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas geben könnte, das ich ihm verzeihen müsste. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

wait for me in the skyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt