Kapitel 28

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Milenas Pov

Mein Körper hing kraftlos in den Ketten. Das Metall um Handgelenke schnitt in meine Haut und presste sich in die Wunden meiner rechten Hand. Meine Fingerspitzen hatten zu kribbeln angefangen, allerdings nahm ich dies kaum wahr, da andere Empfindungen viel größer waren. Der Schmerz in meiner rechten Hand, der beständig pochte, da das Silber der Kette durch den Verband in die aufgeplatzten Wunden gedrückt wurde. An diesen Schmerz hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Ich spürte ihn ohnehin seit dem Tag, an dem meine Hand demoliert worden war. Insgesamt schmerzte so ziemlich jede Zelle meines Körpers. Wie oft Al mich geschlagen hatte, wusste ich nicht. Ich hatte irgendwann nicht mehr die Kraft dazu aufbringen können, mitzuzählen. Aber es war oft genug gewesen und ich konnte die Erleichterung nicht mit Worten beschreiben, die ich empfunden hatte, als er den Lagerraum verlassen hatte. Mein Körper war durch die Schläge von mehreren Wunden gezeichnet. Mir fiel kein Körperteil ein, das von den Schlägen verschont geblieben war, aber nicht überall waren offene Wunden entstanden. Nur an meiner rechten Wange, meiner Brust, meiner Hüfte auf der linken Seite und meiner linken Schulter. Durch den Kampf in Wald hatten meine Arme und Beine sowie der Rest meines Körpers gelitten, weshalb ich mir sicher war, dass sich bereits üble Verfärbungen gebildet hatten. Nachdem mich Jenna niedergeschlagen hatte und man mich zum Schiff gebracht hatte, war ich einmal aufgewacht und hatte versucht, mich zu befreien. Gelungen war es mir nicht. Für einen kleinen Moment hatte ich mir meine Freiheit erkämpfen können, aber noch bevor ich hätte loslaufen können, hatten sie sich auf mich gestürzt. Ich konnte nicht sehen, wie es um den Befund meines Körpers stand, da mir die Bewegungsfreiheit fehlte, um ihn ansehen zu können. Aber ich wusste, dass meine Kleider zerrissen waren, ich spürte die Wunden und das Blut, das meine Haut und den Stoff meiner Kleidung verklebte. Der Schmerz, der mich wie eine Blase umhüllte, war unerträglich. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr danach gesehnt, das Bewusstsein zu verlieren. Aber würde sie das dazu bringen, aufzuhören? Vermutlich nicht.

Ich wusste nicht einmal genau, wohin sie mich gebracht hatten. Nachdem ich im Wald das Bewusstsein verloren hatte, war ich nur einmal aufgewacht. Zu dem Zeitpunkt hatten wir uns noch im Wald befunden. Dann hatten sie mich wieder ausgeknockt und als ich das nächste Mal aufgewacht war, hatte ich in diesem Lagerraum gesessen und feststellen müssen, dass man mich gefesselt hatte. Außer Al hatte den Raum niemand betreten und ich hatte weder Jenna noch einen der anderen Angreifer wieder zu Gesicht bekommen.

Meine Hände ballten sich in den Metallschellen und Fäusten, als meine Gedanken zu Jenna glitten. Wie hatte sie mich nur so hintergehen können? War ich tatsächlich so blind gewesen? Offensichtlich schon. Ich hatte ihr ohne Weiteres einfach so vertraut und war davon ausgegangen, sie wäre meine Freundin. Und diese Unachtsamkeit hatte das Leben eines unschuldigen kleinen Mädchens gekostet.
Es war unfassbar wie lang die Liste all der Dinge war, an denen ich Schuld trug. Nur meinetwegen passierten all diese schrecklichen Dinge. Weil man mir eine Aufgabe anvertraut hatte, der ich nicht gewachsen war. Als mein Vater mir den Stein zukommen lassen hatte, hatte er mir vertraut. Er war sicher gewesen, dass ich es schaffen würde. Dass ich stark genug war. Und ich hatte ihn enttäuscht. Anstatt seine Erwartungen zu erfüllen, hatte ich Menschen in den Tod getrieben und Hunderte in Gefahr gebracht. Und am Ende war ich nicht einmal dazu in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.
Ich biss mir auf die Lippe, als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging. Was war mit mir passiert? Was war aus dem Mädchen geworden, was sich all die Jahre durchs Leben gekämpft und niemals aufgegeben hatte? Wo war das Mädchen, dem es egal gewesen war, wie stark es blutete, weil es den Mut zu kämpfen nie verloren hatte? Dieses Mädchen war gemeinsam mit meiner Mutter gegangen. Es hatte meine Mutter nicht beschützen können und so war es ihr gefolgt. Es war weggelaufen, als man es am meisten gebraucht hatte.
Genau das wurde mir jetzt klar. In dem Moment, in dem mein Leben am seidenen Faden hing, wo ich bereit war, aufzugeben, wurde mir klar, was es bedeuten würde, wenn ich aufgab. Dann würde nicht nur ich untergehen. Nein, mit mir würden hunderte Menschen untergehen. Es hingen Leben davon ab, wer in Besitz des Steines war, der sich in meinen Wunden verbarg.
Das Mädchen, das kämpfte, war gegangen. Jetzt war es Zeit, es zurück zu holen. Jenna hatte mich betrogen. Sie hatte jemanden getötet, den ich liebte. Ich trug den Seelenstein. Ich trug die Macht zu entscheiden, was passierte. Ich konnte aufgeben und somit das Ende hunderter Unschuldiger besiegeln. Oder ich konnte kämpfen und versuchen, ein Blutbad zu verhindern. Ich dachte an alles, was passiert war. All das, was in den letzten sechzehn Jahren passiert war. Was man mir angetan hatte. Was man mir weggenommen hatte. Ich musste mir das nicht bieten lassen. Ich hatte die Wahl, selbst über mein Schicksal zu entscheiden. Und das würde ich tun. Ich mochte vielleicht am Boden liegen, in Ketten gelegt und blutig geschlagen. Aber deswegen gab ich noch lange nicht auf. Sie hatten mir meine Mutter nehmen können. Sie hatten mir Ally nehmen können. Aber ich würde nicht zulassen, dass sie mir noch mehr nahmen. Alles, was ich noch hatte, würde ich nicht kampflos hergeben. Er konnte mich foltern, solange er wollte, den Stein würde er von mir nie bekommen.
Ich presste die rechte Hand zur Faust zusammen und schloss die Augen. Jedes Mal, wenn der Schmerz im Einklang mit meinem Herzschlag in meinen Adern aufpochte, atmete ich tief aus. Ich konzentrierte mich auf den Stein, schickte den Mut, den ich sammelte hinein, ließ ihn in das Band fließen. Ich musste Jamie erreichen. Er musste wissen, dass ich noch da war. Wissen, dass es mir gut ging. Und dass ich sie nicht im Stich lassen würde. Für mich selbst hatte dieser Kampf keinen Wert. Aber für ihn schon. Die Organisation und ihre Forschung waren sein Leben. Alles, was ihn je am Leben gehalten hatte. Also tat ich es für ihn. Ich spürte, wie das Blut vermischt mit meinen Tränen über meine Wange lief und auf den Boden tropfte. Es hatte sich bereits eine Lache vor meinen Knien gebildet, deren Größe beträchtlich wuchs, wenn auch langsam. Ich hatte Angst. Panische Angst. Die Tränen ließen sich nicht zurückhalten und dagegen anzukämpfen, würde mich zu viel meiner verbleibenden Kraft kosten. Also ließ ich meinen Körper gewähren und ließ sie fließen. Irgendwie hatte Weinen etwas Befreiendes.

Spuren im SandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt