Kapitel 22

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Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht vor elf Uhr aufzustehen. Allerdings konnte ich dieses Vorhaben vergessen, als mein Körper sich weigerte, wieder einzuschlafen, nachdem ich zur Toilette gegangen war. Ich warf mich eine gefühlte Ewigkeit von einer Seite auf die andere, bis ich so sauer war, dass ich mir die Decke von den Füßen trat und aufstand. Trotz der Tatsache, dass ich schon eine ganze Zeit lang wach war, waren meine Augenlider schwer wie Blei. Da ich meine morgendliche Planung sowieso über den Haufen geworfen hatte, schnappte ich mir mein Handtuch und frische Klamotten und verzog mich in die Dusche. Die warmen Wasserstrahlen, die auf meinen Körper prasselten, kitzelten auch die letzten schlafenden Zellen wach und ich konnte meinem Gehirn fast wieder verzeihen. Ich ließ mir Zeit damit, meine Haare in den duftenden Schaum meines Himbeershampoos zu hüllen und ihn wieder auszuspülen. Genau so damit, auch den Rest meines Körpers zu waschen. Erst als meine Finger ein wenig schrumpelig wurden, stellte ich das Wasser ab und wickelte mich in mein Handtuch. Die Spiegel waren beschlagen und als ich hineinschaute, war mein Spiegelbild gar nicht zu sehen. Ich hob die Hand und begann, mit dem Finger auf dem Glas zu malen. Mein Finger zog die Linien allein und ich erwachte erst aus meinem träumerischen Zustand, als ich realisierte, was ich geschrieben hatte. Ich wischte es schnell fort und durch die Wassertröpfchen, die nun am Spiegel saßen, konnte ich mich wieder sehen.

Als ich das letzte Mal so in den Spiegel geschaut hatte, hatte man meine Rippen durch die Haut sehen können. Mein Gesicht war eingefallen und hatte ausgesehen wie das einer Leiche. Die Augen leer und dunkel. Das Mädchen, das ich jetzt im Spiegel sah, war ein ganz anderes. Seine Rippen standen nicht mehr hervor und das Gesicht hatte eine gesunde Farbe. Die Augen schimmerten in einem stechenden Blauton und niemand würde mehr auf die Idee kommen, es eine Leiche zu nennen. Man konnte nicht sagen, dass ich glücklich aussah, aber immerhin sah ich wieder aus als würde ich leben.

Ich riss mich von meinem Spiegelbild los und zog mich zügig an. Kurze Hose. Top. Nichts Aufregendes. Anschließend kämmte ich mir die Haare und trocknete sie mit einem Föhn, da es mir zu lange dauerte, sie von sich aus trocknen zu lassen. Ich ging auf mein Zimmer zurück und räumte meine Sachen weg. Ein Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand, verriet mir, dass es nun sogar schon nach elf war. Ich hatte meine morgendliche Planung wiederhergestellt. Also beschloss ich, nach unten zu gehen, um die anderen zu treffen.

Als ich auf der Terrasse ankam, wurde mir bewusst, welch dumme Idee es war, erst um elf runterzugehen. Denn alle kamen um elf. Und mit alle meinte ich auch alle. Die ganze Terrasse war voll mit Menschen, die bei Kaffee und Brötchen mit erheiterten Gesprächen in den Tag starteten. Normalerweise kamen wir immer schon etwas früher und waren wieder weg, ehe der große Ansturm kam. Dieses Mal leider nicht. Ich konnte unseren Standardplatz nicht sehen, geschweige denn, ob die anderen dort waren. Ich war zu klein, um über all die Köpfe hinwegschauen zu können. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, aber auch das brachte mich nicht weiter. Mit einem unbeholfenen Seufzen ließ ich mich auch auf den Rest meiner Füße zurückfallen. Plötzlich berührte etwas meine Hand. Ich ertastete eine Hand, die nach meiner griff und drehte mich um.

Er grinste. "Suchst du was?"

Ich verzog beleidigt das Gesicht. "Du etwa?"

"Also ich habe gerade gefunden, was ich gesucht habe." sagte er. "Wir dachten schon, du würdest gar nicht mehr kommen."

"Du hast gut Reden, du kannst ja auch allen über die Köpfe gucken und sehen, wo deine Freunde sind." moserte ich.

Er legte den Kopf leicht schräg. "So, du willst den anderen also über die Köpfe gucken? Das lässt sich machen." sagte er und zog mich zu sich.

Ich blinzelte. "Warte! Moment, so war das nicht gemeint, ich..." Zu spät. Jamie hob mich hoch und keine fünf Sekunden später fand ich mich auf seinem Rücken wieder. "So meinte ich das nicht, Blödmann." lachte ich und stieß ihn leicht gegen den Hinterkopf. "Ich bin viel zu schwer für solche Spielchen."

Spuren im SandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt