Die Zimmertür fiel hinter mir ins Schloss. Ich lehnte mich gegen das dunkle Holz. Mein Kopf war leer. Frei von jedem Gedanken. Mein ganzer Körper fühlte sich an wie eine leere Hülle. Genau so wie wenige Wochen zuvor. Ein Déjà-Vu, das mich nun nicht loslassen würde. Es war alles genau wie damals. Alles genau wie damals. Mit dem Unterschied, dass man mir damals meine Mutter und jetzt Ally genommen hatte. Jamie hatte mich gehen lassen, als ich mich beruhigt hatte und ihn darum gebeten hatte, mich in Ruhe zu lassen.
Ich richtete mich auf und ging rüber zum Tisch. Ich setzte mich auf den Stuhl davor und legte die Arme auf die kühle Tischplatte. Ich starrte auf das dunkle Holz. Ich dachte an nichts. So viele Gefühle mich von innen erschlugen, so wenige Gedanken kamen dabei raus. Eine ganze Weile saß ich reglos da. Mein Blick glitt über den Tisch und blieb an meinem Notizbuch hängen. Ich starrte es an, als würde ich versuchen, zu erraten, was es mir sagen wollte. Und diese Erleuchtung kam schließlich auch.
Ich nahm das Buch und schlug eine leere Seite auf. Ich nahm mir meinen Bleistift und fing an zu zeichnen. Ich malte aus der Erinnerung heraus Ally. Genau so, wie ich sie gesehen hatte, bevor sie sie fortgebracht hatten. Geschlossene Lider, die schwarzen Locken um ihren Kopf und Hals gesäumt. Versunken in einen Schlaf, aus dem sie nie wieder erwachen würde. Als ich ihren leblosen Körper auf Papier gebracht hatte, ergänzte ich noch einige Dinge. Ich malte ihr Flügel. Engelsflügel. Flügel, von denen ich hoffte, dass sie sie in den Himmel trugen, wo sie ihren verdienten Platz einnahm. Als ich die Zeichnung vollendet hatte, trennte ich die Seite ordentlich aus und verließ das Zimmer. Ich lief den Flur runter zu der Tür mit der roten Aufschrift Nur Personal. Ich ignorierte die Schrift und ging rein. In den Regalen kramte ich nach den Sachen, die ich brauchte. Dann verließ ich das Lager mit meiner Beute. Einer Schachtel Streichhölzer und zwei Tüten Teelichter. Und das Bild, die Teelichter und die Streichhölzer waren das, womit ich schließlich das Hotel verließ und in den Wald ging.
Ich lief eine Weile zwischen den Bäumen umher, bis ich den Platz erreichte, an dem ich Ally das erste Mal begegnet war. Ich sah mich um und konnte ganz weit hinten zwischen zwei Bäumen eine Lichtung entdecken. Ich bahnte mir den Weg durch das Gebüsch und stand dann auf einer Blumenwiese. Die Wiese, auf der Ally ihre Blumen gepflückt hatte. Ihr allerliebster Platz.
Ich ging in die Knie und legte die Sachen ab. Die Grashalme kitzelten die nackte Haut meiner Beine und verschlangen die kleine Schachtel Streichhölzer beinahe, weshalb ich sie besser auf die Plastiktüte mit den Teelichtern legte. Nach dem ganzen Aufruhr hatte es noch einige Dinge gegeben, die zu erledigen gewesen waren. Man musste die anderen Passagiere beruhigen und eine möglichst glaubhafte Erklärung an diese abliefern. Das alles hatte eine ganze Weile gedauert, aber ich hatte nicht viel davon mitbekommen, da es für mich nur Jamie, mich, Ally und meine Tränen gegeben hatte. Doch jetzt war mein Bewusstsein einigermaßen wieder zurückgekehrt und ich war der Wahrnehmung meiner Umgebung wieder mächtig.
Ich nahm das Bild, das ich gezeichnet hatte und legte es auf das Gras. Dann stand ich auf und lief die Blumen ab. Ich pflückte alle Farben und Arten, so wie Ally es getan hatte und ging an meinen Platz zurück. Ich trennte die Stengel von den Blüten und legte sie in einen Kranz um das Bild herum. Ich riss einen der Plastikbeutel auf und nahm die Teelichter heraus. Ich stellte je eins in die Mitte der Blüten. Ich arbeitete mich Ring für Ring vor und legte ein großes Herz aus den bunten Blüten. Ich verbrauchte fast beide Tüten voll Teelichter und eine ganze Menge Blumen. Dann griff ich mir die Streichhölzer. Ich zog eins raus und zog es den roten Streifen an der Seite der Schachtel entlang. Eine kleine Flamme fing an, an der roten Kuppe zu tanzen. Ich brachte sie mit dem kleinen Docht jedes Teelichtes in Berührung, bis alle brannten. Ich spürte, wie die Flamme mir die Finger anbrannte und ließ sie mit einem kurzen Pusten wieder erlöschen. Wie einfach es ging, etwas so kleines auszulöschen. Genau so einfach konnte man ein Menschenleben auslöschen. Das war mir nun klar. Aber ich war hergekommen, um Abschied zu nehmen, fest entschlossen, mich in der Zeit, die ich dafür brauchte, von dem Depressionszustand fernzuhalten. Ich betrachtete die flackernden Lichter, sicher darüber, dass sich die Flammen in meinen Augen spiegelten. Dann stand ich auf und zog mein Handy aus der Tasche. Ich brachte etwas Abstand zwischen mich und meine Erschaffung und fotografierte mein Werk. Nicht aus Stolz über meine Arbeit, sondern als Erinnerung an den Menschen, dem es gewidmet war.
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Spuren im Sand
FantasyIm Leben der sechzehnjährigen Milena läuft gerade alles schief. Ihre Mutter, der wichtigste Mensch in ihrem Leben, stirbt bei einem Unfall. Für die einsame Blondine bricht eine Welt zusammen. Sie soll zu ihrem Vater ziehen. Während ihrer Reise schli...